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Der Blutkristall

Titel: Der Blutkristall
Autoren: Jeanine Krock
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hatte sich kaum jemals länger als einige Minuten Sorgen um sich selbst gemacht, und dieser Abend war zu schön, um heute damit anzufangen. Sie hatte geträumt, etwas, was selten genug geschah. Und die lebhaften Bilder ihres Traums ließen sie nicht los. Je höher der neue Mond am Nachthimmel stieg, desto deutlicher konnte sie es spüren: ein Knistern in der Atmosphäre, als rieben sich die Dimensionen aneinander, wie sie es sonst nur in den Raunächten taten, wenn die Schwachen besser in ihren Häusern blieben und ihre Türen fest verriegelten.
    Sie breitete die Arme aus, als seien es zu lange ungenutzte Schwingen und streckte ein Bein in die Luft. Was sie sah, gefiel ihr. Die Haut unvergleichlich glatt, als hätte sie erst gestern die übliche Prozedur eines Waxings über sich ergehen lassen, dessen Schmerzen sie glücklicherweise nur vom Hörensagen kannte. Selbst der aufmerksamste Betrachter würde einige Zeit brauchen, um die gesamte Schönheit ihrer Erscheinung in sich aufnehmen zu können und endlich ihren vollendet geformten Fuß ins Auge zu fassen. Vivianne lächelte. So oder so ähnlich hatten die Lobpreisungen ihres inniglichsten Liebhabers geklungen. Sie sandte ihm einen liebevollen Gedanken, er würde ihn brauchen können, denn der arme Poet hatte nichts zu lachen. Schon gar nicht, seit er in einem privaten Sanatorium lebte, weil er nicht einsehen wollte, dass es so etwas wie Vampire nur in seiner Fantasie gab. Den Patienten fehle es dort an nichts, hatte ihr der Direktor, ein alter Freund der Familie, versichert. Sie konnten bei täglichen Spaziergängen die frische Luft genießen und die unendliche Ruhe, die in diesem abgelegenen Hochtal des Kaukasus herrschte.
    Vivianne hasste traurige Gedanken am frühen Abend. Sie angelte eine Fernbedienung vom Nachttisch, die schweren Fensterläden glitten automatisch beiseite und mit einem kaum hörbaren Klicken sprang der Sicherheitsmechanismus ihrer Schlafzimmertür auf. Ungeduldig schob sie die Daunendecke fort, stieg aus dem Bett und warf einen Blick auf ihr Spiegelbild. Egal, was das Schicksal für sie plante, es gab keinen Grund, den apokalyptischen Reitern ungekämmt gegenüberzutreten. Letztlich waren sie auch nur Männer. Sie runzelte die Stirn. Wer hatte eigentlich das Gerücht in die Welt gesetzt, Vampire wie sie wären auch ohne kosmetische Hilfe und eine anständige Garderobe unwiderstehlich? Glücklicherweise stand ihr von beidem nur das Beste zur Verfügung. Ihr hatte es niemals an etwas gemangelt, weder an Verehrern noch an Geld. Und schon gar nicht an eleganter Kleidung. Ihre beiden Brüder lieferten den besten Beweis, so fand sie, dass selbst ihresgleichen der natürlichen Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern, oder wie auch immer, mit ein wenig Geschick noch nachhelfen konnten. Kieran war gewiss der am besten gekleidete Kopfgeldjäger dieser Dimension. Asher, der Bibliothekar, dagegen hätte ohne die modische Beratung seiner stilsicheren Schwester ganz gewiss niemals eine Gefährtin gefunden und würde womöglich seine Kleidung immer noch allein nach dem Gesichtspunkt der Bequemlichkeit aussuchen. Der Gedanke daran ließ sie erschaudern. Schnell lief sie durchs Zimmer und öffnete einen verborgenen Kühlschrank. «Haben wir kein B-negativ mehr?» Natürlich antwortete niemand. So weit ging ihre Liebe zu den Sterblichen nicht, dass sie einen von ihnen tagsüber in ihrer Wohnung geduldet hätte. Vivianne nahm eine Flasche heraus, trank und zog bereits die Badezimmertür hinter sich zu, bevor die Flüssigkeit ihren Magen erreicht hatte. Auch ohne Frühstück besaß sie einige außerordentliche Gaben, und sich schneller zu bewegen, als ein menschlicher Betrachter dies für möglich gehalten hätte, gehörte dazu.
    Nach einer langen, heißen Dusche kehrte sie in ihr Schlafzimmer zurück, öffnete die Balkontüren und trat hinaus auf einen schmalen Sims, wie man ihn hier an vielen Häusern sah und den die Pariser gern vollmundig als Balkon bezeichneten. Dabei reichte es, einen halben Schritt zu tun, und man stand an dem eisernen Geländer, das die Wagemutigen vor einem sicheren Sturz bewahrte. Vivianne beugte sich hinüber und sah zwischen den Blättern der Platanen hinab auf die Straße, wo zu dieser Zeit Passanten mit eiligen Schritten nach Hause strebten. Andere flanierten, ein Paar umfasste sich liebevoll, schlenderte über den Boulevard, blieb hier und da auch stehen, um einen Blick auf die unerschwinglichen Auslagen der Geschäfte zu
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