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Der Blutkristall

Titel: Der Blutkristall
Autoren: Jeanine Krock
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werfen. Wer in dieser Straße einkaufte, verabredete einen Termin. Allen anderen blieb nur der Traum vom Luxus.
    Die Arme weit ausgebreitet lehnte sich Vivianne noch ein Stück weiter vor. Jeden Tag etwas mehr und immer noch der Schwerkraft trotzend. Sie überlegte, wie es wohl wäre, wenn der Wind sie jetzt bei den Flügeln greifen und über die Stadt tragen würde. Weit, weit fort aus ihrem geliebten Paris. Ein Rauschen riss sie aus ihren Gedanken.
    «Guten Abend, Nabrah!» Sie ging hinein, nahm ein paar Sonnenblumenkerne aus einer Schale und präsentierte sie dem Raben auf der flachen Hand. Er senkte seinen Schnabel, der länger war als ihr kleiner Finger, und nahm behutsam einen Kern entgegen, knackte und bewegte ihn in der Schnabelspitze hin und her. Dann schluckte er und sagte: «Kein Filet? Er ist also gekommen?»
    «Nein! Das ist er nicht. Genau wie all die anderen, die spätestens nach dem ersten Date das Weite suchen.»
    «Das sind die Mutigen.»
    «Ach, halt den Schnabel!» Viviannes Laune war dahin, sie drehte sich auf dem Absatz um und verschwand im Dunkel des Zimmers. Der Rabe auf dem Geländer spreizte seine Flügel, streckte das rechte Bein von sich, und es sah einen Augenblick lang so aus, als betrachte er seine Krallen. Dann zog er den Fuß dicht an den Körper heran und plusterte sein Gefieder auf.
    Begleitet von einem unfreundlichen «Da, nimm!» kam in diesem Augenblick ein Stück Fleisch angeschossen, das er trotz seiner vorübergehenden Einbeinigkeit geschickt auffing. Nabrah drehte sich den Brocken im Schnabel zurecht, legte seinen Kopf in den Nacken und im Nu war die Leckerei verschluckt. Vivianne reichte ihm einen zweiten Brocken, der ebenso schnell verschwand.
    «Bedankt, mein Herz!» Der Vogel öffnete seine Schwingen. Wäre es möglich gewesen, dass Raben zufrieden grinsten, dieser hier hätte es getan. «Also, was unternehmen wir heute?» Er sprang vom Geländer und überquerte geruhsam den Teppich. Vivianne erinnerte der hüpfende Vogel immer an einen Staatsbeamten. Dunkel gekleidet und von seiner eigenen Wichtigkeit überzeugt. Sie beachtete ihn nicht weiter und setzte sich an ihren antiken Schminktisch. Um den unschönen Schein des Alterns aufrechtzuerhalten, musste sie inzwischen allabendlich mehrere Schichten Make-up auftragen. «Ich sehe abscheulich aus!» Sie warf ihrem Spiegelbild einen ärgerlichen Blick zu.
    Reg dich nicht auf, sonst musst du deine Nägel neu lackieren.
    «Was weißt du schon von Kosmetik?» Dummerweise hatte Nabrah aber recht. Viviannes Fingernägel hatten die Angewohnheit zu wachsen, bis sie gebogenen Klauen ähnelten, sobald sie sich ärgerte. Klauen, die heute mit Red Velvet, einem sündhaft teuren Lack bestrichen wären. So etwas sah weder besonders schick aus, zumal die Farbe durch die Verformung abblätterte, noch ließen sich vier Zentimeter lange Krallen so ohne Weiteres vor den Augen der Menschen verbergen. Ein Problem, das auch eine so junge Vampirin wie sie längst im Griff haben sollte. Sie holte tief Luft. Nötig war dieses Relikt aus den Zeiten der Sterblichkeit nicht, aber es beruhigte sie. «Und jetzt lenk mich nicht ab, ich habe gleich eine wichtige Besprechung in der Agentur!»
    «Der Rothaarige?»
    Vivianne lachte. «Ach du lieber Himmel, doch nicht der! Es gibt nichts Langweiligeres als Finanzmenschen. Aber ich gebe zu, das Meeting möchte ich ungern verpassen. Nur so», sie breitete ihre Arme aus, «wird mich keiner von ihnen beachten.»
    «Hat dir schon mal jemand gesagt, dass diese Castings nicht veranstaltet werden, damit du dir die leckersten Happen aussuchen kannst?»
    «Nicht?» In Viviannes Augen funkelte es.
    «Mach, was du willst, mein Herz!»
    Das Casting war eine Enttäuschung. Natürlich zog sie trotz ihrer lächerlichen Verkleidung genügend Blicke auf sich, aber sie war nicht sehr hungrig und keiner der Männer interessant genug, um einen Flirt zu beginnen. Vivianne verlor schnell ihr Interesse und verabschiedete sich unter einem Vorwand.
    «Ich sterbe vor langer Weile!» Sie warf ihre Kostümjacke, von der die Werbung behauptete, sie sei die beste Wahl für Businessfrauen ab Mitte vierzig, achtlos über eine Stuhllehne und streifte die schwindelerregend hohen Pumps ab. Bei Schuhen machte Vivianne keine Kompromisse. Auf Strümpfen lief sie in ihr Schlafzimmer.
    Wurde aber auch Zeit, ich habe Hunger! Meistens plauderte Nabrah lieber per Gedankenübertragung. Ein sprechender Vogel wäre in der Öffentlichkeit doch zu
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