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Der Ausflug

Titel: Der Ausflug
Autoren: Renate Dorrestein
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Niels ihn tränenüberströmt gefragt: »Fahren wir jetzt nie mehr in Ferien, Pap?« Erstaunlich, wie klar ein Siebenjähriger seine Gefühle in Worte fassen konnte. Denn was bedeutete diese Frage anderes als: Wird das Leben je wieder normal, je wieder schön? Beschwörend dachte er: Ich krieg das schon hin, sagte er zu sich selbst. Drei Monate waren noch eine so kurze Zeit, es musste erst ein Jahr darüber vergehen. Aber dann, so hörte man manchmal, ging es erst richtig los. Denn Verlust konnte sich doch, wenn man es genau betrachtete, nur immer weiter auftürmen, bis in alle Ewigkeit.
    Bei diesem Gedanken wurde ihm so beklommen zumute, dass er sich hastig wieder in Bewegung setzte. Er beschloss, zurück den längeren Weg zu nehmen, am alten Sommerhaus vorbei. Der Kiesweg war von einem gelben Unkraut gesäumt,dessen Namen er immer vergaß. Wenn man einen Stängel davon abbrach, kam ein leuchtend orangefarbener Saft heraus, den man kaum von den Händen bekam. Veronica hatte es ihren Jungen jedes Jahr wieder begeistert demonstriert. Unzählige Male war sie hier entlanggegangen, auf ihren langen Stelzen, ihren Storchbeinen, wie sie selbst sagte. Unzählige Male auch waren sie hier gemeinsam gegangen, schwatzend und lachend oder, im Gegenteil, in Gedanken versunken, vielleicht sogar übellaunig schweigend. Ob sich die Kiesel noch an ihre Füße erinnerten, mit den seinen daneben? Ein Ehepaar, das erkannte so ein Weg natürlich sofort, ein leichter Schritt neben einem schwereren: Schau an, ein Paar. Es schien das Normalste von der Welt zu sein.
    Er blieb stehen und wippte langsam auf und ab, sodass der Kies unter seinen Fußsohlen knirschte. Bis ihm dämmerte, dass er das tat, weil er blödsinnigerweise auf irgendeine Antwort hoffte. So was wie ein dünnes Stimmchen: Hallo, hier spricht der Kiesel dort unten links, nein, etwas weiter nach rechts, ja, der, das bin ich, und ich bin noch von Ihrer Frau betreten worden, Sie können mich gern als Andenken mitnehmen.
    Hör auf, Laurens, hör endlich auf!
    Sie war hier auch ohne ihn schon gegangen. Die Tradition dieser Sommerwoche in der Imkerei stammte bereits von vor seiner Zeit. Veronica, Gwen und Beatrijs hatten seit ihrer Schulzeit jedes Jahr eine gemeinsame Woche anberaumt, in der sie mal wieder ausführlich miteinander reden und lachen, sich betrinken und Berge von Spaghetti zusammen kochen konnten. Und das war, als sie geheiratet hatten, unverändert fortgesetzt worden: Ihre Männer und später ihre Kinder waren einfach Teil der alljährlichen Woche geworden, waren in die Tradition hineingeschoben worden, wie Gwen ein Blech Brötchen in den Backofen schob. Und da man die Imkereikeine sieben Tage lang sich selbst überlassen konnte, war An der Schleuse , wo man mit einer so großen Gesellschaft auch viel mehr Bewegungsfreiheit hatte als bei den anderen zu Hause, von nun an ihre feste Adresse gewesen.
    Auf den zahllosen Fotos, die im Laufe der jeweiligen Sommer gemacht wurden, waren die drei Freundinnen immer gleichermaßen prominent und frech abgelichtet, Arm in Arm, Grimassen schneidend, entspannt und vertraut. Gwen: ganz Mutter Erde natürlich, mit schmuddligen nackten Füßen, sonnengebleichtem Kleid und Schmutzstreifen auf der Stirn. Beatrijs: Stets auf Bleistiftabsätzen, die gedrungene Figur in die frivolsten Kreationen gepresst, mit einem etwas verblüfften Blick, als sei ihr gerade ein Gedanke gekommen, der ihren Verstand überstieg. Veronica: Die blitzenden Augen halb hinter ihrem dunklen Haar versteckt, mysteriös, scheinbar distanziert, aber unweigerlich mit vergnügt gekräuselten Mundwinkeln. Hinter den dreien die vagen Konturen ihrer Lieben. Man sah die breiten Schultern eines Ehemannes oder das pausbäckige Gesicht eines kleinen Kindes, das den Kopf zwischen den Knien der Erwachsenen hindurchgezwängt hatte. Doch selbst die Fotos, auf denen sie alle zusammen wie eine große italienische Familie um den Tisch saßen, verrieten, dass die Männer und die Kinder in dieser einen Woche im Jahr nur Nebensache waren. Statisten oder zufällige Passanten im Leben der Frauen.
    Worüber hatten die Freundinnen in all diesen Jahren geredet? Welche Geheimnisse hatten sie einander anvertraut? Laurens wollte es gar nicht wissen. Entschieden marschierte er weiter und folgte dem Pfad um die Ecke.
    Direkt vor der Tür des Sommerhauses saß Timos Schwester Bobbie in der Spätnachmittagssonne und enthülste Dicke Bohnen.
    »Bobbie!«, rief er.
    Sie zeigte keinerlei Reaktion.
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