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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits
Autoren: Pierre Bellemare
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nicht, daß ich bald sterben muß! Und solange hier gebaut wird, solange werde ich auch leben! Also baue ich weiter! Es ist ganz einfach, nicht wahr?«
     
    Nicht wahr! Nicht wahr! Sarah Winchester hat ihre fünf Sinne nicht mehr beisammen, das ist die Wahrheit! Zumindest sind alle felsenfest davon überzeugt. Besonders die Männer der Arbeitskolonne, die am Tag darauf verwundert die neuen Instruktionen der Witwe erhalten: »Sie beginnen mit dem rechten Flügel! Nächstes Jahr kümmern wir uns dann um den linken Flügel.«
    »Wie bitte?«
    »Ja, meine Herren, Sie haben richtig verstanden. Es dauert bestimmt Jahre! Ich bin gesund und ich will lange leben. Also wenn Sie Lust haben, bauen Sie weiter! Ich zahle jeden Preis, das wissen Sie!«
    Die Männer tippen sich an die Stirn, unauffällig versteht sich. Die rüstige Fünfzigerin hat nicht mehr alle Tassen im Schrank, daran ist nicht zu zweifeln, aber das ist schließlich egal. Hauptsache, sie zahlt gut. Nur darauf kommt es an. Und die Bauarbeiten beginnen aufs Neue...
     
    Die Jahre gehen vorüber, und das Haus nimmt nach und nach gigantische Ausmaße an.
    Das Unternehmen verschluckt allmählich das gesamte Privatvermögen von Sarah Winchester. Sechsunddreißig Jahre lang wird gebohrt, genagelt, gegraben, gemalt, tapeziert — Zimmer um Zimmer aneinander gereiht. Sechsunddreißig Jahre lang! Aus der fünfzigjährigen Witwe ist eine verschrumpelte, aber noch sehr resolute Dame von sechsundachtzig Jahren geworden, und wir schreiben mittlerweile das Jahr 1917.
     
    Eines Tages bekommt Sarah Winchester unangemeldeten, sehr unangenehmen Besuch: Von einem ihrer Urenkel — einem echten Winchester, der jetzt die Waffenfabrik leitet. Er ist eigens angereist, um ihr klarzumachen, die Familie hätte nun lange genug Verständnis für die Marotten der Urgroßmutter gezeigt. Sie solle endlich zur Vernunft kommen und aufhören, mit Bauklötzen zu spielen!
    »Grandma Sarah, wir können uns diesen Wahnsinn einfach nicht mehr leisten! Was ist Ihnen wichtiger: Dieses lächerliche Bauwerk hier, oder die Winchester Company?«
    »Du sollst dich nicht in Angelegenheiten einmischen, die dich nichts angehen! Oliver hat die Winchester gegründet und berühmt gemacht. Das war sein Lebenswerk — damals, bis er starb. Heute arbeite ich hier nur in seinem Auftrag. Die Winchester Company gehört mir. Oliver wußte genau, warum ich allein die Universalerbin sein sollte. Er hatte große Pläne... das alles ist nur eine Sache zwischen ihm und mir.«
    »Nicht ganz, denn wenn es so weiter geht, dann sind wir bald pleite! Der Krieg tobt in Europa, wir kommen mit den Waffenlieferungen nicht mehr nach. Unsere Konkurrenten reiben sich die Hände, und wir müssen tatenlos zusehen, wie unsere Arbeiter uns davon laufen, nur weil wir nicht mehr genug in die Produktion investieren können!«
    »Oliver hat sich schon lange aus dem Waffenhandel zurückgezogen. Ihr solltet alle froh sein, daß ihr bis heute überhaupt davon leben konntet.«
    »Die Familie und der Verwaltungsrat schicken mich, um Sie nach Hause zu holen. Nach New Haven!«
    »Wie reizend! Welche Familie! Mein lieber Junge, ich sehe dich heute zum ersten Mal. Und ich hatte auch nicht das Vergnügen in den letzten sechsunddreißig Jahren, meine anderen Enkel und Urenkel kennenzulernen!«
    »Wir sind uns alle einig, wir machen nicht mehr mit!«
    »Ich weiß genau, was Ihr mit mir vorhabt! Ich bin vielleicht alt, aber deshalb noch lange nicht so dumm, wie Ihr glaubt! Ich besitze noch die meisten Anteile der Winchester Company, und ich werde sie — wie die anderen schon — verkaufen! Aber nicht an euch! Das ist es ja! Ich weiß Bescheid, Grünschnabel! Oliver erzählt mir alles. Er ist mit euren Arbeitsmethoden überhaupt nicht einverstanden. Deswegen will er auch nicht, daß ihr die Anteile bekommt. Ich weiß, wem ich sie verkaufe!«
    »Das ist doch lächerlich! Oliver Winchester ist tot! Seit 37 Jahren! Sie benehmen sich kindisch. In der ganzen Gegend lacht man über Sie. Sie schaden unserem guten alten Namen.«
    »Das ist nicht wahr! Jeder bewundert Oliver House !«
    »Sie sind nicht mehr bei Trost! Auch Ihr Arzt sagt... nun ja... daß Sie krank sind!«
    »Er ist dumm wie ein Esel!«
    »Grandmother, ob es Ihnen zusagt oder nicht — Sie werden mit mir abreisen!«
    »Niemals!«
    »Doch! Jeder Arzt wird Sie für unzurechnungsfähig erklären, wenn wir ihn darum bitten. Das ist nur eine Formalität! Bis jetzt wollten wir jeden Skandal vermeiden und
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