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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits
Autoren: Pierre Bellemare
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Die Erscheinung im Weißen Haus
     
    Tom freut sich. Er freut sich unbeschreiblich, als er am 15. Oktober 1963 endlich die Antwort auf seine Bewerbung erhält. Es hat geklappt! Noch nie — soweit er zurückdenken kann — hat er sich so unheimlich glücklich gefühlt wie jetzt, in diesem Augenblick, mit diesem Brief in der Hand.
    Dabei soll er eigentlich eine recht bescheidene Stellung antreten: Er wird zum Hauspersonal gehören und seine Tage von nun an mit Besen und Staubsauger verbringen — noch dazu für ein mickriges Gehalt! Also, die niedrigste Stufe zum sozialen Aufstieg. Und darüber gerät er vor Begeisterung völlig außer Rand und Band? Ja, und wer Tom kennt, weiß auch warum.
    Der achtzehnjährige Rotschopf, Kind einfacher texanischer Farmer, hat nicht besonders viel gelernt. In der Schule fiel er nur durch sein Bemühen um Mittelmäßigkeit in allen Fächern auf, außer in einem: In Geschichte! Seit seiner frühesten Kindheit ist Geschichte seine Leidenschaft. Damals schon nervte er die Erwachsenen mit altklugen Fragen über Dinge, die ihn nichts angingen, und er bekam immer dieselbe Antwort: »Das verstehst du noch nicht!« Das sagen die Großen immer, wenn sie nicht weiter wissen.
    Im Laufe der Zeit beschäftigte sich Tom also allein mit der faszinierenden Weltgeschichte im allgemeinen und mit der Geschichte der Vereinigten Staaten im besonderen. Heute, mit achtzehn Jahren, kennt er alle Namen und Daten, alle Kämpfe und Revolten, die sein Land erschütterten. Mit nahezu religiösem Eifer hat er im Laufe der Jahre dicke Alben mit Bildern und Zeitungsausschnitten von den wichtigsten historischen Ereignissen angelegt.
    Und jetzt kommt dieser Brief aus Washington! Vom Weißen Haus! Dort soll er nämlich arbeiten, und wenn es nur putzen ist! Im Haus des Präsidenten! Ein Traum für den jungen Mann.
    Schon am nächsten Tag ist er in Washington. Aber bevor er zu der Stelle hingeht, bei der er sich melden soll, bleibt er noch eine Weile vor dem Amts- und Wohnsitz des Präsidenten stehen. Mit klopfendem Herzen betrachtet er die Fassade — er kennt jeden Salon, jedes Zimmer und jeden auch noch so versteckten Winkel in diesem seit 1814 weiß verputzten Gebäude. Ja, auch das weiß Tom selbstverständlich, das Weiße Haus ist nicht immer weiß gewesen.
    Tom hatte noch nie die Ehre hineingehen zu dürfen, klar, und dennoch würde er sich auch mit verbundenen Augen überall zurechtfinden.
     
    »Dort ist er«, denkt der Junge mit glänzenden Augen, »dort hinter diesem Fenster sitzt er an seinem Arbeitstisch!« Tom läßt seine Blicke langsam über die weißen Säulen wandern — er träumt. Er träumt davon, daß er Ihn , den Präsidenten John F. Kennedy, bestimmt bald in Fleisch und Blut sehen wird. Und vielleicht darf er ihm einmal die Hand geben. Und vielleicht darf er sogar einmal ein paar Worte mit ihm reden?
    Tom denkt an all das, was sich drinnen hinter den alten Mauern begeben hat: er denkt an Washington, Eisenhower, Roosevelt und Lincoln... Es sind alte Freunde von ihm, sie haben ihn durch seine Kindheit begleitet.
    Der Haushalt des Weißen Hauses steht unter der Leitung von Major Howard, einem ehemaligen Marine-Unteroffizier, und die einzelnen Arbeiten sind generalstabsmäßig so aufeinander abgestimmt, daß alles wie am Schnürchen läuft. Tom wird mit dem Staubsaugen und mit dem Putzen der Fenster und Spiegel in acht Räumen im ersten Stock an der Nordwest-Ecke betraut. Bald geht ihm die Arbeit ganz automatisch von der Hand — zu den festgelegten Zeiten und in der vorgeschriebenen Reihenfolge. Trotz seines peniblen Arbeitsplans und der Eintönigkeit seiner Tätigkeit, bleibt er unverdrossen fröhlich. Der Junge hat den Kopf voll mit historischen Träumen. Da kann keine Langeweile aufkommen.
    Nach wenigen Wochen hat sich Tom vollständig in diesem illustren Haus eingelebt. Er hat sich nicht nur schnell mit dem größten Teil des Hauspersonals angefreundet, er versteht sich auch sehr gut mit den Sicherheitsbeamten, die immer wieder über seine verblüffenden geschichtlichen Kenntnisse staunen. Sehr bald hat er den Spitznamen Mister President weg.
    Er lebt und arbeitet jetzt seit einem Monat im Weißen Haus. Es ist der 15. November. Wie jeden Morgen hat er zuerst im Spiegelsalon staubgesaugt und reibt nun den Spiegel über dem Kamin blank. Da ertönt auf einmal eine kindliche Stimme:
    »Hurra! Hurra!«
    Tom dreht sich um, aber es ist kein Mensch da. Er ist völlig allein. Doch wieder hört er das Kind
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