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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits
Autoren: Pierre Bellemare
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Direktor vielleicht kurz zu sprechen wäre, es sei sehr persönlich, sehr dringend und es wäre sehr liebenswürdig, wenn... Auch der Direktor ist — genau wie die Prinzessin Tovarov — um sechzehn Jahre älter geworden, aber sie erkennt ihn sofort. Er dagegen kann sich nicht erinnern, diese alte, sichtlich erschöpfte Frau jemals gesehen zu haben, die da mit ihren beiden Koffern vor ihm steht.
    »Madame, mit wem habe ich die Ehre?«
    Die Frau lächelt traurig.
    »Großfürstin Tovarov. Ich WAR die Großfürstin Tovarov! Ich konnte aus Moskau fliehen, ich bin seit sechs Wochen unterwegs zu Ihnen, Herr Direktor. Ich dachte, eingedenk vergangener Zeiten, würden Sie mir vielleicht helfen? Ich besitze keinen Rubel mehr.«
    »Prinzessin! Als ich von der Revolution in Rußland hörte, mußte ich an Sie denken! Übrigens — was ist mit Ihrer Villa?«
    »Meine Villa?«
    Es war damals ein so berauschendes Fest — in jeder Hinsicht — daß die Prinzessin schon am nächsten Morgen vergessen hatte, das riesige Haus gekauft zu haben! Und sie hatte auch niemals bemerkt, ein Vermögen dafür bezahlt zu haben! So reich war sie.
    Sechzehn Jahre später steht sie nun mit dem Hoteldirektor, dem Makler und dem Notar vor ihrem Haus. Niemand hat es seit dem Ball der Halb-Welt betreten. Als sie hineingehen, liegt alles noch so herum wie am 1. Januar 1902, die leeren Flaschen am Boden, die Glasscherben auf dem Flügel und überall Staub und Spinnweben.
     
    Als die Nachricht in Monte Carlo publik wurde, die Prinzessin Tovarov sei zurückgekehrt, verarmt und einsam — da kamen die früheren Freunde aus der Halbwelt ihr zu Hilfe. Und mit ihnen zusammen gelang es ihr, aus der Villa des Mimosas eine wunderschöne Pension zu machen, in der man abends bei Kerzenlicht schwermütige russische Musik hören konnte.
     

Illusion, nichts als Illusion
     
    Im Jahr 1856 gingen die Postboten noch zu Fuß. Sie waren oft den ganzen Tag unterwegs, bei jedem Wetter. Es war noch zu der Zeit, als die Briefe und Depeschen persönlich überbracht wurden. Der Briefbote kannte jeden in seinem Zustellbereich, besser noch als der Dorfpfarrer.
    André, der »Neue«, ist sehr jung und unerfahren. Um so mehr freut er sich auf seinen ersten Gang an diesem Septembermorgen 1856. Er hat nur einen einzigen Brief auszutragen, aber der Weg bis zum Prieuré , einem großen, abgelegenen Landgut in der Nähe von Blois, ist weit. Das macht ihm nichts aus, er ist gut zu Fuß und genießt den langen Spaziergang entlang der Loire in der idyllischen Landschaft. Eines beunruhigt ihn allerdings ein wenig: Warum haben die älteren Kollegen nur so verschmitzt hinter seinem Rücken gegrinst und geflüstert, als er sich auf den Weg zum Prieuré machte? Führen sie vielleicht irgend etwas im Schilde, um ihn auf die Probe zu stellen?
    Nach fast zwei Stunden steht André vor dem imposanten schmiedeeisernen Tor des ländlichen, ringsum mit hohen Mauern abgeschirmten Herrensitzes. Der rechte Torflügel ist nur angelehnt. Soll er die Glocke läuten, oder einfach so hineingehen. Er zögert ein wenig, schaut sich ratlos um, drückt dann gegen das schwere, quietschende Tor und entschließt sich, das Anwesen zu betreten und die Auffahrt bis zum Schlößchen hinaufzugehen.
    Schon nach wenigen Metern bleibt er abrupt stehen — zu Tode erschrocken! Zur Linken öffnet sich hinter dem Gebüsch eine Grotte, in der ein Eremit mit feierlichem Ernst den Kopf hin und her wiegt. In einer Hand hält er eine Bibel, und mit dem rechten Zeigefinger deutet er immerzu auf den Totenkopf, der ihm zu Füßen liegt! Rotes Licht flackert aus den Augenhöhlen!
    Der junge Briefbote steht wie angewurzelt vor dieser Horrorvision, nicht einmal fähig, seine Angst hinauszuschreien, geschweige denn, einen klaren Gedanken zu fassen. Er hört auch nicht das Gequietsche hinter sich, und als er endlich aus seiner Erstarrung erwacht, ist es zu spät: das Gittertor ist zu. Er sitzt in der Falle!
    Sein erster Gang, sein erster Brief! Er muß ihn persönlich abgeben und sich vorstellen!
    Also faßt er sich ein Herz, atmet tief durch, schaut wieder nach vorn zu dem großen Haus am Ende des Weges. Und dann, als könnte er bei jedem Schritt auf eine Granate treten, setzt er ganz vorsichtig einen Fuß nach dem anderen vorwärts , den Blick fest auf den Boden geheftet — vorbei an dem Ernsten Bibelforscher. Die Allee schlängelt sich durch das Dickicht. André hört seltsame Geräusche, aber er geht tapfer weiter.
    Plötzlich,
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