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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits
Autoren: Pierre Bellemare
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jubeln: »Hurra! Er kommt! Da ist er!«
    Tausend Stimmen fallen jetzt mit Hurra-Rufen ein. Immer mehr Stimmen, immer lauter und näher. Ein gewaltiges, jauchzendes Gebrüll hallt im ganzen Zimmer, aber es kommt nicht von der Straße! Es kommt... ja, es kommt aus dem Zimmer nebenan! Tom stürzt an die Tür, reißt sie auf — nichts! Niemand! Und auch nichts mehr zu hören. Der Lärm hat sofort aufgehört, als er die Tür aufmachte — so als hätte jemand das Radio abgedreht. Tom steht sekundenlang still mit seinem Putzlappen in der Hand. Völlig ratlos. Ein Kollege kommt vorbei:
    »Na, Mister President, stimmt was nicht? So wirst du mit der Arbeit nie fertig!«
    »Doch, doch... ’s geht schon.«
    Er faßt sich wieder, geht in den Salon zurück und macht die Tür hinter sich zu. In diesem Augenblick schrillt das Gejaule einer Polizeisirene durch das Haus. Die Menge schreit auf — es sind keine Hurra-Rufe mehr, nur entsetztes Geschrei. Wieder läuft Tom zur Tür, öffnet sie — da steht der Major vor ihm und schaut ihn erstaunt an: »Wohin denn so eilig, Mister Ford?«
    Tom lehnt sich an die Wand und schließt die Augen. Nach und nach verklingen die schrecklichen Geräusche in der Ferne. Stille ist wieder eingekehrt.
    »Es tut mir leid, Major, mir war ’nen Augenblick nicht gut. Es geht schon wieder, es ist vorbei.«
    Als er an diesem Abend in seinem kleinen Mansardenzimmer vor seinen vielen dicken Geschichtsbüchern sitzt, wird Tom die Gedanken an das, was er heute erlebt hat, nicht mehr los. Diese Stimmen, diese Geräusche, die wer weiß woher kamen! Die kann er nicht aus seinem Kopf vertreiben. Es war alles so merkwürdig, es klang so echt! Hat er am hellichten Tag etwa geträumt? Ja, es muß wohl so gewesen sein. »Ich hab’ mir alles nur eingebildet, bestimmt!«
    Vergeblich versucht er sich einzureden, daß alles nur ein verrückter Traum gewesen ist, alles nur Einbildung. Aber es nützt nichts, er kann an nichts anderes mehr denken und in dieser Nacht findet er keinen Schlaf.
    Am nächsten Morgen betritt er den Spiegelsalon mit beklommenem Herzen. Als er vor dem Spiegel über dem Kamin steht, hört er sofort wieder die Kinderstimme: »Hurra! Hurra!«
    Und alles läuft genauso ab wie gestern: die tosende Menge, die Schreie und die Polizeisirene. Aber heute geht der Traum weiter: die Stimme eines Rundfunkssprechers mit texanischem Akzent ruft laut und aufgeregt: »Der Wagen des Präsidenten biegt jetzt in Houston Street ein!«
    Mit einem Satz ist Tom draußen im Gang — doch da ist alles still. Da fängt er an wie wild zu rennen, reißt eine Tür nach der anderen auf und in allen Zimmern fragt er seine Kollegen:
    »Habt ihr auch diesen Lärm gehört? Ihr habt ihn doch auch gehört, nicht wahr?«
    Nein, keiner hat etwas gehört. Alle schütteln den Kopf und fragen sich besorgt, was denn mit Tom seit gestern los ist. Er ist nicht mehr er selber. Der fröhliche Junge, immer gut aufgelegt, immer zu jedem Spaß bereit, ist so ernst geworden? Als hätte er Angst. Wovor fürchtet er sich?
    Als sein Freund mit ihm reden will, winkt er müde ab und geht wieder zum Spiegelsalon. Er zittert vor Angst, aber er fügt sich seinem Schicksal und fängt behutsam an, den Spiegel über dem Kamin zu polieren. Er weiß genau, daß etwas Wahnsinniges gleich wieder geschehen wird. Ja, es ist Wahnsinn, aber es ist Wirklichkeit. Für ihn, nur für ihn ist es Wirklichkeit...
    Der Spiegel hat noch nie so schön geglänzt, aber Tom putzt weiter, völlig in Gedanken verloren. Dann ergreift ihn plötzlich ein unheimliches Gefühl — das Gefühl einer Anwesenheit. Eiseskälte herrscht jetzt im Zimmer. Irgend jemand ist hier — irgendwo im Raum hinter ihm. Das spürt er nicht nur — er weiß es. Sein Gesicht wird aschfahl, sein Arm erstarrt: Im Spiegel sieht er das gleißende Abbild eines Bettes! Mitten im Raum steht ein Bett, und darauf liegt der Leichnam eines Mannes — bis zu den Schultern mit dem Sternenbanner bedeckt. Tom schaut ihn einen Augenblick an, ohne die kleinste Bewegung zu wagen. Er traut sich nicht einmal zu atmen. Diesen toten Mann mit dem mageren, knochigen Gesicht erkennt er sofort — jeder Amerikaner würde ihn erkennen: Es ist Abraham Lincoln — Präsident der Vereinigten Staaten, 1865 ermordet.
    Tom faßt endlich Mut, dreht sich um und schaut zur Mitte des Zimmers. Es ist leer. Das heißt, nein, es ist so wie sonst — mit dem Sekretär vor dem Fenster, dem Sofa an der Wand — und auch alle Stühle und Sessel
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