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Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Autoren: Rebecca Martin
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PROLOG
    Juli 1951
    Dieser Sommer würde nicht enden. Schon seit Tagen brann te die Sonne gleißend hell vom Himmel herunter. Die Hitze waberte dicht über dem staubigen Feldweg, malte flirrende Truggebilde in die Luft und ließ das alte, verfallene Weingut, das nun in der kleinen Talmulde vor Bernd und seinem Bruder Wolfgang auftauchte, noch bedrohlicher erscheinen.
    Unvermittelt blieb Bernd stehen, Wolfgang tat es ihm gleich. Für diesen einen Moment, in dem die beiden Jun gen mit aufgerissenen Augen reglos lauschend dastanden, war bis auf ihre eigenen hastigen Atemzüge nichts zu hören. Tatsächlich sah es so aus, als würde das Haus sie beobachten und nicht umgekehrt.
    In einem Anflug von Unbehagen erinnerte sich Bernd daran, dass man sie gewarnt hatte hierherzukommen. Die Mutter hatte es sogar verboten. Zunächst konnte er sich nicht rühren, dann kehrten wie auf einen Schlag die Geräusche in die Welt zurück. Bienen und andere Insekten flirrten und sirrten in der nahen Wiese und in den Weinbergen. Aus dem trockenen Gras links und rechts des Wegs drang das lautstarke Zirpen von Grillen. Entschlossen schob der dreizehnjährige Bernd die Hände in die Taschen seiner kurzen, grauen Stoffhosen und wechselte einen herausfordernden Blick mit dem drei Jahre jüngeren Wolfgang, bevor er betont lässig weiterschlenderte.
    Wolfgang zögerte noch, entschied sich dann aber, dem Bruder zu folgen, wie Bernd an den raschen knirschenden Schritten hinter sich erkannte. Er drehte sich nicht noch einmal um, wenn auch nur, um das eigene mul mige Gefühl im Magen nicht zu verstärken. Vielleicht wäre er ja sonst doch noch weggerannt, so aber rückte das Haus vor ihnen mit jedem Schritt unaufhaltsam näher.
    Kurz vor der nächsten Biegung, hinter der der Weg auf das Tor des alten Guts zuführen würde, bog Bernd in einen kleinen Pfad nach rechts ab, der bald zwischen wuchernden Brombeerranken an der hinteren Mauer des Gebäudes entlangführte und vom Haus nicht eingesehen werden konnte. Um sich abzulenken, betastete er den Inhalt seiner Hosentasche: ein Stein, Vaters altes Taschenmesser und der Kaugummi des Amerikaners, den er sorgsam aufbewahrte.
    Es ist verboten, hier zu spielen, mahnte die Stimme in seinem Kopf erneut.
    Schon alleine deswegen übte das verfallene Gehöft wohl eine geradezu magische Anziehungskraft auf die Kinder des neuen Dorfs aus, der nur schwer zu widerstehen war. Wie oft hatte Bernd die Erwachsenen wispern hören, dass »der Alte«, der dort wohnte, den Verstand verloren habe, dass er gefährlich sei, dass er eingesperrt werden müsse.
    »Nach Alzey gehört der«, hatte die Mutter einmal in seiner Anwesenheit zu Tante Ilse gesagt. Die hatte nur den Kopf geschüttelt. »Aber Margit, der tut doch keiner Fliege was. Der ist ein Eigenbrötler, der Ludwig, nichts weiter.«
    Die Mutter hatte daraufhin etwas Unverständliches ge murmelt. Dann hatte sie laut mit den Töpfen gescheppert.
    »Wart ab, wart nur ab«, hatte sie endlich ausgerufen. »Ihr werdet’s noch alle sehen. Ich hab meinen Jungen jedenfalls verboten, dort hinzugehen. Ist schon schlimm genug, dass Rüdiger und die älteren Burschen sich da herumtreiben. Der Ludwig, sag ich euch, der ist wie ein Blindgänger, der irgendwann explodiert.«
    Danach war das Geschirrklappern wieder lauter gewor den, und Bernd hatte nichts mehr zu hören bekommen. Das, was er gehört hatte, hatte ihn allerdings den ganzen Tag über nicht mehr losgelassen.
    Ob der Alte wirklich gefährlich war? Wie auf ein geheimes Zeichen hin sahen beide Brüder an der hohen Gutsmauer entlang nach oben. Bernd vergrub seine Hände noch tiefer in den Hosentaschen. Wenn der Vater erfuhr, dass sie der Mutter zuwidergehandelt hatten, das wusste er, dann setzte es einen Satz heiße Ohren – und wenn der Alte sie erwischte … Er pfiff leise durch die Zähne, strich sich unwillkürlich mit der Hand über den Hals. Nun, das wollte er sich lieber nicht vorstellen, sonst würde er womöglich doch noch davonlaufen, und das konnte er sich vor Wolfgang nicht erlauben. Schließlich war er der Ältere.
    Leise begann er das erste Lied zu singen, das ihm in den Sinn kam: »Warte, warte nur ein Weilchen …«
    »Was singst’n da?«, wollte Wolfgang wissen.
    »Nix.«
    Bernd blieb stehen, eine Hand immer noch in der Ho sentasche, dicht an den vertrauten Gegenständen. Stein, Vaters Messer, Kaugummi. Mit der anderen Hand stützte er sich gegen die Mauer, winkelte ein Bein an, so wie er es sich bei den
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