Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Denn am Sabbat sollst du ruhen

Denn am Sabbat sollst du ruhen

Titel: Denn am Sabbat sollst du ruhen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
versuchten, ihren Behandlungsstil nachzuahmen, aber niemand verfügte über ihre Intuition, die sie immer wieder das richtige Wort im richtigen Augenblick finden ließ.
    Alle kamen, wenn Eva Neidorf ihre Vorträge hielt. Sie kamen aus Haifa und Tel Aviv, und sogar zwei Kibbuzniks aus dem Süden reisten an. Immer lösten ihre Vorträge stürmische Kontroversen aus, immer brachten sie etwas Neues. Manchmal klangen einzelne Sätze aus Vorträgen viele Tage in Golds Bewußtsein nach und vermischten sich mit Din gen, die sie während seiner Behandlung sagte.
    Jetzt hielt er den Atem an und berührte leise ihren Arm. Weich war der Stoff ihres Ärmels. Er freute sich, daß Winter war; der lange weiße Ärmel vermied, daß er ihre bloße Haut berührte. Auch so mußte er sich beherrschen, um nicht wieder über den Ärmel zu streichen. Er war entsetzt über die widersprüchlichen Triebe und Ängste, die von ihm Besitz ergriffen. Gold hätte nicht gedacht, daß sie in einen tiefen Schlaf fallen konnte. Und hätte er jemals aufgehört, sich darüber Gedanken zu machen, dann mit der Überzeugung, daß sie einen leichten Schlaf hätte. Zugleich fragte er sich wieder, beinahe laut, warum sie so früh im Institut war. Sie war noch immer nicht aufgewacht, er berührte sie erneut, und diesmal war er besorgt.
    Etwas war nicht, wie es sein sollte, aber er wußte nicht, was.
    Rein instinktiv, so erklärte er später, berührte er ihr Handgelenk. Es war kalt. Doch da der Gasofen nicht brannte und sie so schmal war, maß er dem zunächst keine besondere Bedeutung bei. Wieder berührte er das zarte Handgelenk, unbewußt suchte er den Puls, und plötzlich fühlte er sich zurückversetzt in eine der Nachtschichten, die er zu Beginn seiner Laufbahn im Krankenhaus verbracht hatte. Da war kein Puls. Das Wort Tod war noch nicht in sein Bewußtsein gedrungen, er beschäftigte sich nur mit dem Puls. Plötzlich kamen ihm all die Erzählungen über ähnliche Fälle, denen er nie recht Glauben geschenkt hatte, in den Sinn. Da gab es die Geschichte von dem Therapeuten, der, ohne zu reagieren, in seinem Sessel sitzt, während der Patient sich seine ganze unterdrückte Wut auf den Psychologen von der Seele redet. Als die Stunde zu Ende ist und er nichts gesagt hatte, setzt sich der Patient auf, sieht den Therapeuten an und bemerkt, daß er tot ist. Oder die Ge schichte von dem ersten Patienten am Morgen, der die Kliniktür öffnet, nachdem niemand auf sein Läuten geantwortet hat, und der seinen Therapeuten ohne ein Lebenszeichen im Sessel vorfindet. Er hatte, wie sich später herausstellte, sofort nach seinem Morgenlauf das Zeitliche gesegnet.
    Doch das waren triviale Geschichten, und in Wirklichkeit stand Gold in der Mitte des Zimmers mit einer schreckli chen Leere in der Magengrube und fühlte, daß er etwas tun mußte. Er versuchte, sich alle Tatsachen zu vergegenwärtigen: Neidorf, Sessel, Institut, Sabbatmorgen, Tod.
    Gold, der seine Ausbildung zum Psychiater noch nicht lange abgeschlossen hatte, war dem Tod schon oft begegnet. Als Arzt war es ihm gelungen, sich ein Verteidigungssystem anzueignen, das es ihm ermöglichte, mit dem Tod zu leben. Er hatte es geschafft, wie er Neidorf einmal erklärte, einen gesunden Abstand zu toten Menschen herzustellen. Ein Vorhang senkte sich über etwas, das er seine »Gefühlsdrüsen« nannte, wenn er zu einem Toten gerufen wurde.
    Diesmal senkte sich der Vorhang nicht. Statt dessen senkte sich ein anderer Vorhang. Alles versank in einem Nebel, er war wie in einem Traum, der nicht unbedingt ein Alptraum war, nur der Kontakt zum Fußboden war anders als sonst, und die Tür öffnete sich wie von selbst. Obwohl er fühlte, daß seine Glieder ihm nicht mehr gehorchten, war es doch seine Hand, die vorsichtig die Tür schloß, waren es seine Füße, die ihn aus dem Zimmer führten. Er sackte in einen Stuhl nahe der Tür und starrte das Bild des alten Erich Levin an, der ihn freundlich durch das Glas hindurch anlächelte. Obwohl er ahnte, daß sein Verhalten auf einen geradezu schulbuchmäßigen Schockzustand hindeutete, versuchte er, die Fassung wiederzugewinnen. Und er erkannte dunkel, daß er etwas tun mußte.
    Ohne ganz bei Bewußtsein zu sein, erhob er sich aus dem Sessel, nickte mit dem Kopf, holte Luft und gelangte auf einem ihm unbekannten Weg zum Telefon in der Küche.
    Es war nicht – wie gewohnt – abgeschlossen, und das Schloß lag daneben mit einem großen Schlüsselbund darin. Doch Gold fragte sich in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher