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Denn am Sabbat sollst du ruhen

Denn am Sabbat sollst du ruhen

Titel: Denn am Sabbat sollst du ruhen
Autoren: Batya Gur
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hat.«
    Michael hätte gern Hildesheimers Gesicht gesehen, als er seinen Kopf zum ersten Mal zur Seite wandte und zum Fenster hinausblickte. Nur den völlig kahlen Schädel konnte er sehen und den Nacken, der aus dem dunklen Jackett hervorschaute. Schließlich wandte sich der Alte wieder um, blickte Dina Silber direkt an und sagte: »Heute Nacht starb Elischa Naveh.«
    Augenblicklich schwand alle Berechnung aus ihren Zügen. Die Augen waren weit aufgerissen, der Mund begann zu zittern.
    Er ließ sie nicht sprechen und sagte: »Er ist Ihretwegen gestorben. Sie hätten den Tod verhindern können, wenn Sie verantwortungsvoll gearbeitet und auf die Befriedigung Ihrer Bedürfnisse verzichtet hätten.«
    Dina Silber senkte den Kopf und brach in Tränen aus. Mit einer mechanischen Bewegung reichte der Alte ihr Papiertaschentücher, die sich in dem unteren Fach des kleinen Tisches befanden, und sagte: »Sie wußten, daß Dr. Neidorf Einzelheiten des Falles kannte. Die Beweise, die sie hatte, sind in meinen Händen. Ebenfalls die Kopie ihres Vortrags. Und dort steht alles, der dritte Abschnitt des Vortrags befaßt sich nur mit Ihnen.«
    »Aber ich werde dort überhaupt nicht erwähnt!« schrie sie. Dann herrschte Stille, und sie erblaßte.
    Michael befürchtete, sie werde das Bewußtsein verlieren, fürchtete, daß alles verloren gehe.
    Aber da bekam das weiße Gesicht etwas Farbe, und der Alte sagte: »Suchen Sie keine Ausflüchte. Es gibt nur einen Menschen außer mir, der den Vortrag gesehen hat: derjenige, der sich mit Dr. Neidorf am Sabbatmorgen, vor dem Vortrag, getroffen hat. Derjenige, der sie ganz früh am Sabbat angerufen hat und um eine Begegnung bat – in einer Sache auf Leben und Tod. Ich weiß doch, wie Sie so etwas formulie ren können. Und als Dr. Neidorf Ihnen auseinandergesetzt hat, daß es keine Gnade für dieses kapitale Vergehen gibt, sind Sie aufgestanden und haben sie erschossen. Sie hätten allerdings bedenken müssen, daß mich Eva Neidorf anrufen würde, bevor sie Ihnen die Tür öffnete. Sie rief mich an, um mir von Ihrer bevorstehenden Begegnung zu erzählen. Wie konnten Sie das vergessen, nachdem Sie an alles andere gedacht hatten – an den Revolver, den Sie zwei Wochen vorher gestohlen haben, an den Vortrag –, wie konnten Sie etwas so Einfaches wie ein Telefongespräch vergessen?«
    »Sie hat Sie vorher angerufen?« fragte Dina Silber mit erstickter Stimme und begann sich aus dem Sessel zu erheben. Der Alte rührte sich nicht von seinem Platz. Seine Haltung blieb unverändert, als sie sagte: »Sie haben keine Beweise, niemand außer mir weiß etwas. Vielleicht gibt es Beweise in Bezug auf Elische, aber niemand weiß etwas von der Begegnung mit Eva Neidorf, niemand hat mich gesehen.« Sie stand ganz dicht vor dem Alten, der sich noch immer nicht von seinem Platz rührte, als Michael das Zimmer betrat und sagte: »Sie irren sich, Frau Silber, es gibt Beweise, viele Beweise.«
    Da verlor sie die Kontrolle und stürzte sich auf Hildeshei mer, und ihre Hände würgten seinen Hals. Michael Ochajon mußte all seine Kraft aufbieten, um den Alten von den Fingern mit den abgenagten Nägeln zu befreien.
     
    »Und jetzt«, sagte Schaul, nachdem er das Tonband geprüft hatte und die Ausrüstung zusammenpackte, »beginnt die wirkliche Arbeit.« Er hielt Dina Silbers Mantel in der Hand, einen weichen blauen Wollmantel, und bemerkte zufrieden, daß der Faden, den man neben der Ermordeten gefunden hatte, von diesem Kleidungsstück stamme. Er legte den Faden in dem kleinen Plastiktütchen vergleichend auf den Mantel. Es lärmte ringsherum, als sie im Schlafzimmer die ursprüngliche Ordnung wiederherstellten.
    Hildesheimer saß in seinem Arbeitszimmer im Sessel, sein Kopf war zurückgelehnt, er wirkte unendlich müde, sein Gesicht war grau.
    Michael setzte sich ihm gegenüber und steckte eine Ziga rette an. Er wußte nicht, weshalb – vielleicht wegen der fehlenden Siegesfreude, vielleicht wegen der Niedergeschlagenheit, die ihm beim Anblick des Alten ergriff, und der Müdigkeit, die ihn die Kontrolle verlieren ließ –, aber Michael entschlüpfte die seltsame Frage: »Professor Hildesheimer, was meinten Sie, als Sie im Zusammenhang mit Giora Böhm sagten, daß es mit den Argentiniern etwas Besonderes auf sich habe?« Und Hildesheimer lächelte.
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