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Denn am Sabbat sollst du ruhen

Denn am Sabbat sollst du ruhen

Titel: Denn am Sabbat sollst du ruhen
Autoren: Batya Gur
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darüber sollte er später nicht mehr lächeln. Die bevorstehende Vorlesung ließ eine besondere, aufgeregte Erwartung in ihm aufglimmen: Er sollte seine Analytikerin nach ihren vierwöchigen Urlaub wieder sehen.
    Im Laufe der vier Jahre, in denen Neidorf Golds Analytikerin gewesen war, hatte er einige ihrer Vorlesungen gehört, und jede war ein aufwühlendes Erlebnis gewesen. Sicher, stets war ein gewisses Gefühl der eigenen Bedeutungslosig keit in ihm aufgekeimt, der dumpfe Verdacht, daß er nie mals ein wirklich großer Therapeut werden würde. Aber das wurde immer aufgewogen von dem einmaligen Erlebnis selbst und dem Bewußtsein, daß er teilhatte an der seltenen Gottesgabe, über die Eva Neidorf verfügte – die gesegnete Intuition, das absolute Wissen, wann man einem Patienten was sagen muß, und das präzise Gespür für das erforder liche Maß Wärme; und er wußte, daß er all dies von ihr bekommen hatte, als er ihr Patient gewesen war.
    In dem Rundschreiben des Instituts, in welchem die Veranstaltung angekündigt worden war, stand auch der Vor lesungstitel: »Einige Aspekte der ethischen und forensischen Probleme bei der analytischen Behandlung«. Nie mand ließ sich von den Worten »einige Aspekte« beirren. Schlomo Gold wußte, daß die heutige Vorlesung, die mit einer bescheidenen Einleitung eröffnet werden würde, die ganze Weite der Fragestellung umfassen würde. Er wußte, daß auch diese Vorlesung, in den Fachzeitschriften veröf fentlicht, erregte Debatten auslösen würde, und er genoß die Vorstellung, daß er die kleinen Änderungen erkennen würde, die Dr. Neidorf vor der Veröffentlichung an dem Aufsatz vornehmen würde. Er würde sich wieder in dem berauschenden Gefühl ergehen können, daß er »wirklich dabei gewesen war«, wie jemand, der im Radio ein Konzert hört, das er bereits live im Konzertsaal erlebt hat.
    Gold parkte sein Auto vor dem Eingang zum Gebäude, die Straße gehörte ihm noch ganz. Aus dem Handschuhfach nahm er den Schlüsselbund des Instituts – er hielt ihn stets getrennt –, an dem sich die Schlüssel zur Haustür, zum Telefonschloß und zum Lagerraum befanden. Er schloß sein Auto ab und öffnete das grüne Eisentor; nur ein genauer Beobachter bemerkte das breite goldene Schild daran, das über die Art des Instituts Auskunft gab. Er stieg die gewundene Treppe bis zu der hölzernen Tür empor, die man von der Straße aus nicht sehen konnte. Wieder konnte er der Versuchung nicht widerstehen, er wandte sich um und über blickte von der erhöhten Veranda die Straße und den gro ßen blühenden Garten, von dem der Duft von Jasmin und Geißblatt hochstieg. Dann öffnete er mit einem leichten Lächeln die Tür zur Eingangshalle, die, wie immer, im Dunkeln lag.
    Schwere Vorhänge hingen vor den geschlossenen Fenstern. Gold erinnerte sich nicht, wer die gestiftet hatte, aber sie erfüllten ihren Zweck. Jede Einzelheit in der Eingangshalle war ihm so vertraut wie das Haus seiner Kindheit. Durch die Eingangshalle gelangte man zu sechs Räumen mit massiven Holztüren; sie waren alle geschlossen.
    Rückblickend begann alles mit dem Geräusch zersplitternden Glases. Es geschah in dem Augenblick, als es Gold gelungen war, den Tisch an die Wand zu schieben und er sich schwerfällig auf ihm abstützte. Als er das splitternde Glas hörte, brauchte er nicht einmal seine Augen zu heben. Einen Moment war er wie gelähmt, aber im gleichen Augenblick wußte er auch genau, welche Fotografie zu Boden gefallen war.
    Jahrelang hatte er in diesem Vortragssaal Fallstudien und theoretische Diskussionen verfolgt, während sein Blick über die Wände geschweift war. Er kannte wie alle anderen hier den Platz eines jeden Bildes.
    Die Porträts der Verstorbenen hingen an den Wänden, und nachdem vor einigen Monaten das letzte Bild aufgehängt worden war, hatte jemand gescherzt, nun müsse man die kommenden in den Mittelgang hängen. Viele Stunden hatte Gold dort verbracht, in die Augen der Toten gestarrt und aus ihren Blicken alles gelesen, was zu wissen war. Er erin nerte sich zum Beispiel an Fruma Holländer und ihre lachenden Augen. Sie war Kontrollanalytikerin gewesen und hatte der ersten Generation nach dem Gründer angehört. Mit einundsechzig Jahren war sie überraschend an einem Herzanfall gestorben. Ihr Bild hing rechts vom Eingang, und wer am rechtsseitigen Ende des Saales saß, konnte ihre Augen sehen, ohne daß ihn die Verglasung störte. Links, direkt neben der Tür, hing das Porträt
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