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Denn am Sabbat sollst du ruhen

Denn am Sabbat sollst du ruhen

Titel: Denn am Sabbat sollst du ruhen
Autoren: Batya Gur
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es ihm damals gefallen, sie bei einer so gewöhnlichen Handlung zu beobachten. Sogar das leichte Zittern ihrer Hand, die die Tasse hielt, hatte er nicht vergessen. Auch damals wußte er, daß die Beziehung zum Therapeuten eines der großen Themen der Psychotherapie ist und sich alle psychoanalytischen Theorien damit beschäftigen.
    Jetzt stand er da und fragte sich, wie er sie ansprechen sollte. Er flüsterte immer wieder: »Dr. Neidorf.« Sie reagierte nicht. Etwas in ihm, erläuterte er später, zwang ihn, seine vorsichtigen Versuche, sie zu wecken, fortzusetzen. Er wußte nicht weshalb, nur seine Verlegenheit war ihm verständlich. Es mußte unangenehm sein für Eva Neidorf, wenn sie aufwachte und er vor ihr stand.
    Einen Moment lang betrachtete er ihr Gesicht. Er sah einen Ausdruck darin, der ihm vollkommen fremd war. Eine Art Schwäche, dachte er, vielleicht sogar Leblosigkeit. Immer lag in ihrem Gesicht eine so umwerfende Intensität, die jeden anderen Ausdruck beherrschte. Dieser Ausdruck von Schwäche, dachte er, könnte von den geschlossenen Augen herrühren; die Quelle ihrer Energie lag in den Augen, in diesen wundervollen, alles durchdringenden Augen. Nur selten hatte er sich getraut, ihr direkt in die Augen zu schauen, und jedesmal war eine unerträgliche Hitze in ihm hochgestiegen. Und nun wagte er es, zum ersten Mal in seinem Leben, sie von nahem zu betrachten, wie ein Junge, der seiner Mutter beim Anziehen zusieht, während sie glaubt, er würde schlafen.
    Alle waren sich einig darüber, daß Eva Neidorf eine außergewöhnlich schöne Frau war. Die schönste Frau am Institut, pflegte Joe Linder zu sagen, um dann hinzuzufü gen, daß die Konkurrenz dort nicht allzu groß sei. Aber in Wahrheit zog sie noch immer alle Blicke auf sich, sobald sie einen Raum betrat, trotz ihrer einundfünfzig Jahre. Ihre Schönheit forderte die Reaktion von Frauen und Männern gleichermaßen heraus. Sie wußte, daß sie schön war, war aber nicht hochmütig; sie behandelte ihren Körper wie ein eigenes, von ihr getrenntes Wesen: Sie pflegte etwas, das der Pflege bedurfte, mehr nicht. Ihre Kleidung war der Gegenstand langer Debatten, sogar zwischen Männern. Kandidaten, Assistenten und Analytiker – niemand konnte ihrer Erscheinung gegenüber gleichgültig bleiben. Sogar der alte Hildesheimer hatte – das wußten alle – eine Schwäche für sie. Während der Vorträge pflegte er ihr vertraulich zuzulächeln, und in den Kaffeepausen unterhielten sie sich in einer Ecke, beide mit ernsthaftem Gesichtsausdruck. Sie nickten einander zu, und ein Gefühl tiefen Verständnisses ging von ihnen aus und erfüllte den Raum.
    Nun schlief sie im Analytikersessel, und Gold konnte sie ausführlich betrachten. Ihr Haar, von zahlreichen Silberfä den durchzogen, war im Scheitel zusammengenommen, das dick aufgetragene Make-up auf den feinen Wangenknochen und auf dem spitzen Kinn war deutlich zu sehen. Auch ihre Augenlider waren stark geschminkt. Aus der Nähe konnte Gold erkennen, daß sie in der letzten Zeit sehr gealtert war. Er dachte daran, daß sie bereits Großmutter geworden war und daß sie erschöpft wirkte, seit ihr Mann gestorben war. Häufig hatte er sich gefragt, wie ihre Beziehung zu ihrem Mann gewesen war, aber wenn er versuchte, sie sich in der vertrauten Umgebung ihres Hauses vorzustellen, sah er sie stets in einem ihrer eleganten Kleider, wie heute. Sie trug ein scheinbar schlichtes, weißes Kleid, das sogar ihm, obwohl er davon nichts verstand, außergewöhnlich und teuer erschien; der hohe weiße Stehkragen verlieh ihrem Gesicht einen besonderen Glanz.
    Viele Stunden widmeten Neidorf und Gold seinem Unvermögen, einen gewöhnlichen Menschen in ihr zu sehen, seinem Unvermögen, sie sich außerhalb der Behandlungs zeit vorzustellen. Er behauptete, er könne sie nie anders sehen als in einem ihrer Kleider, er könne sie sich zum Beispiel unter keinen Umständen in der Küche vorstellen. Und er war nicht der einzige. Keiner konnte sich Eva Nei dorf in einem Morgenmantel vorstellen. Manche behaupte ten ernsthaft, daß sie wahrscheinlich niemals esse.
    Gleichzeitig bewunderten alle ihre Fähigkeiten als Therapeutin. Und was ihre Begabung als Kontrollanalytikerin anging – da konnte es niemand mit ihr aufnehmen. Alle ihre Kandidaten verfolgten konzentriert ihre Ausführungen. Sie wurden nicht müde, ihren »Blick in das Innere« zu loben, ihre »seltene Intuition« und ihre »unendlichen Energiereserven«. Ihre Schüler
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