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Denn am Sabbat sollst du ruhen

Denn am Sabbat sollst du ruhen

Titel: Denn am Sabbat sollst du ruhen
Autoren: Batya Gur
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ein albernes Lied pfeifen konnten, ohne die Menschen auf der Couch zu stören.
    Es gab nicht genügend Räume für die dreißig Kandidaten und all die Patienten. Deshalb kam es zu Problemen bei der Zuteilung der Räume und der Erstellung des Stundenplans. Wenn aber bei Sitzungen der Unterrichtskommission Kla gen aufkamen, insistierte der alte Hildesheimer, die Kandidaten sollten ihre Patienten so lange im Institut empfangen, bis sie Mitglieder würden. Das Gebäude müsse benutzt werden, es müsse von Leben erfüllt werden, zitierte man, ihn.
    Niemand konnte behaupten, daß es ernstlich Streit um die Räume gegeben hätte, aber man konnte die Unter schiede zwischen den Kandidaten fühlen, was Jahrgang und Status betraf. Es verstand sich von selbst, daß der Anfänger in das kleine Zimmer gesteckt wurde, der rangältere Kandidat jedoch, der schon drei Patienten behandelte, selbstverständlich sein Arbeitszimmer frei wählen konnte.
    Das kleine Zimmer war sehr klein, aber das war nicht sein einziger Mangel. Sein größter Nachteil war, daß es neben der Küche lag: Die flüsternden Stimmen der Kaffeetrinker, die sich in den kurzen Pausen zwischen zwei Patienten in der Küche trafen, das Läuten des Telefons und die langsame, zögernde Stimme der Sekretärin – all diese Geräusche drangen trotz des doppelten Vorhangs an der Innenseite der Tür herein.
    Die Patienten, die in dem Raum behandelt wurden, reagierten unweigerlich darauf. Golds zweiter Fall, eine Frau, konnte die Befürchtung, man könne ihre Worte draußen hören, nie überwinden, und Gold verbrachte Stunden da mit, das zu interpretieren.
    Aber wenn sich die Angehörigen des Instituts am Sabbat zu Vorträgen und Abstimmungen trafen, war alles erlaubt. Die Fenster waren weit geöffnet, das Licht und die Welt drangen herein. Gerade betrat Gold, freudig vor sich hin pfeifend, das kleine Zimmer, um die letzten Stühle heraufzuholen. Es schien ihm auch jetzt vertraut und freundlich. Gold war »seinem« Zimmer, in dem er arbeitete, liebevoll zugetan, obwohl er ungeduldig den Tag erwartete, der den Wechsel in das erste Zimmer rechts vom Eingang bringen würde; es war auch dies eine Frage des Dienstalters. Er nannte jenes Zimmer für sich »Frumas Zimmer«, weil Fruma Holländer, eine kinderlose Junggesellin, dem Institut ihre schweren und gemütlichen Möbel vererbt hatte. Etwas von ihrer Wärme und Liebenswürdigkeit, von ihrer Lebensfreude, von ihrem freundlichen Blick haftete den Möbeln und sogar den farblosen Bildern noch an.
    Gold blieb in der Tür des kleinen Zimmers stehen. Die Vorhänge waren zugezogen, das Zimmer war so dunkel, daß er kaum die Umrisse der Möbel erkennen konnte. Er zog die Vorhänge zurück, während er daran dachte, daß er sich noch um die Kaffeetassen kümmern mußte und um die Aschenbecher. Er selbst rauchte nicht, aber man mußte an die anderen denken.
    An Professor Nachum Rosenfeld zum Beispiel. Die Zigarillos, die fortwährend in seinem Mundwinkel steckten, verliehen ihm einen verschlossenen, mürrischen Ausdruck. Wenn niemand einen Aschenbecher in seine unmittelbare Nähe stellte, lagen überall die braunen Stummel um ihn herum. Etwas von Rosenfelds Bosheit offenbarte sich in seiner gleichgültigen Art, die Stummel auszudrücken und sich das nächste Zigarillo anzustecken. Manchmal erbit terte es Gold, und er fühlte eine gewisse Solidarität mit dem zerdrückten Zigarillo.
    Er wandte sich vom Fenster ab und sah sich um. Und dann hörte er auf zu atmen, im wahrsten Sinne des Wortes. Später, als er sein Gefühl beschreiben wollte, sprach er von einem Schock, von einer Unterbrechung des Herzschlags.
    Im Sessel, im Analytikersessel, saß Dr. Eva Neidorf. »Sie selbst saß dort«, wiederholte Gold später immer wieder. Natürlich traute er seinen Augen nicht. Die Vorlesung sollte um halb elf beginnen, es war noch nicht halb zehn, und erst gestern war sie aus Chicago zurückgekehrt. Es war auch nicht ihre Art, so früh zu kommen. Eva Neidorf saß bewegungslos im Sessel, zurückgelehnt, die linke Hand stützte die Wange, ihr Kopf war leicht nach links geneigt. Die schlafende Neidorf erschien Gold wie ein Mensch, in dessen Nähe er sich nicht aufhalten durfte. Nicht allein, daß er das Gefühl hatte, in eine private Situation einzudringen; vor seinen Augen enthüllte sich ein Bereich ihrer Existenz, der vor ihm hätte verschlossen bleiben müssen. Er erinnerte sich, wie er sie zum ersten Mal hatte Kaffee trinken sehen. Wie schwer war
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