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Denn am Sabbat sollst du ruhen

Denn am Sabbat sollst du ruhen

Titel: Denn am Sabbat sollst du ruhen
Autoren: Batya Gur
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jenem Augenblick nicht, wer es so eilig gehabt haben könnte, daß er das Telefon offen ließ und seine Schlüssel auf dem Küchentisch vergaß. Später erinnerte er sich gut an den Schlüsselbund, auch an das Futteral aus feinem Leder mit dem eingestickten Muster.
    Aber später erinnerte er sich auch an viele andere Details: an das Tropfen des Wasserhahns, an die fast volle Kaffeetasse in der Spüle unter dem Schild: »Die Kollegen werden gebeten, die Tassen nach dem Gebrauch gut abzuspülen und den Stecker aus der Steckdose zu ziehen. Erst vor einem Monat mußte der Boiler ausgewechselt werden, da ein Heizstab kaputtgegangen war.« Darunter war die krakelige Unterschrift von Pnina, der Sekretärin, gesetzt. Aber all das kehrte erst später in sein Gedächtnis zurück. Im Moment war er ganz und gar auf das Telefon konzentriert, und während er wählte, setzte er sich, mit dem Hörer am Ohr, auf den Stuhl der Sekretärin und wartete.
    Es kam ihm vor, als ob Jahre vergingen, bis am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde. Die Stimme einer alten Frau mit schwerfälligem deutschem Akzent sagte nur ein Wort: »Ja.«
    Gold war wohl vertraut mit den Gerüchten um Frau Dr. Hildesheimer, und dieses eine Wort bewahrheitete alle Legenden über sie. Die Dame, so sagte man, verhält sich zum Telefon, zur Türglocke und zum Briefkasten wie zu Vertretern einer feindlichen Macht, die kommen, um ihren Mann zu rauben und ihn mit ihren nicht endenden Forderungen umzubringen.
    Einige behaupteten, nur ihr sei es zu verdanken, daß Hildesheimer so alt geworden sei – seinen achtzigsten Geburtstag sollte er im kommenden Monat feiern –, ohne, und dabei pflegten sie auf Holz zu klopfen, ohne je ernstlich krank gewesen zu sein.
    Zum einen hatte sie dafür gesorgt, daß der Tagesablauf des Alten in den vergangenen fünfzig Jahren unverändert geblieben war: Er arbeitete acht Stunden täglich während der ersten dreißig Jahre, von acht bis eins und von vier bis sieben, und sechs Stunden in den folgenden zwanzig Jahren, vier morgens und zwei nachmittags. Zwischen zwei und vier aber existierte er für den Rest der Welt nicht. Außerdem war sie äußerst streng, was seine weiteren Aktivitäten be traf, selbst wenn es Arbeiten waren, die als weniger aufreibend galten. Sie bestimmte, wie oft er Vorlesungen halten oder ihnen beiwohnen durfte, selbst die Zahl der Unterrichtsstunden, all dies hing von ihr ab. Die Legende berichtete, daß es unmöglich sei, zum alten Hildesheimer vorzudringen, ohne von seiner Frau die Erlaubnis zu erhalten.
    Frau Hildesheimer sagte: »Ja«, und Gold sagte mit deutlicher Stimme seinen Namen und teilte mit, daß er vom Haus aus spreche – und natürlich fragte sie nicht, von welchem Haus. Nach kurzer Pause entschuldigte sich Gold für die Störung am Sabbat und erklärte, es sei ein Notfall. Von der anderen Seite ließ sich nichts vernehmen, und Gold war nicht mehr sicher, ob sie noch da war. Er wiederholte zweimal das Wort »Notfall«, und schließlich geschah das Wunder.
    Die Stimme des Alten klang, als habe er nie geschlafen, lebhaft und völlig wach. Gold wußte, daß er zu der Vorlesung erwartet wurde. Wahrscheinlich hatte er geplant, zu Fuß zu gehen, sein Haus lag nicht weit vom Institut, und an schönen Tagen förderte seine Frau körperliche Betätigung – in Maßen.
    Der alte Mann sagte: »Hallo«, und augenblicklich fiel die ganze Last der Verantwortung von Gold ab. Da er nicht genau wußte, wie er alles berichten sollte, sagte er noch einmal, daß Schlomo Gold spreche und daß er sich im Institut befinde und daß er früher gekommen sei, um alles vorzubereiten. Hildesheimer gab ein langes, erwartungsvolles »Ja« von sich. Gold schwieg, er fand die Worte nicht. Da fragte der Alte etwas besorgt: »Dr. Gold?«, und Gold antwortete, er sei noch da. Dann fügte er eilig hinzu, daß etwas Schreckliches geschehen sei, seine Stimme zitterte bereits, etwas Schreckliches, Hildesheimer solle bitte sofort kom men. Einige Sekunden vergingen, bevor der Alte antwor tete: »Gut, sofort.«
    Gold legte den Hörer auf und fühlte eine große Erleichterung. Danach schaltete er den großen Boiler an, was absolut unsinnig war, weil das Wasser erst nach ungefähr einer Stunde kochen würde, aber die praktische Beschäftigung beruhigte ihn.
    Draußen müssen die Vögel gezwitschert haben, Gold hörte es nicht. Nur ein Geräusch interessierte ihn, und als er es endlich vernahm, klang es wie die großartigste Musik, das
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