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Dem eigenen Leben auf der Spur

Dem eigenen Leben auf der Spur

Titel: Dem eigenen Leben auf der Spur
Autoren: Felix Bernhard
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verbot sich von selbst.
    Also sehe ich es positiv, dass ich allein unterwegs bin. Es gibt genügend Dinge, über die ich nachdenken will, und einige heftige Familiengeschichten, die zu verarbeiten ich mir vorgenommen habe. Vor einem halben Jahr ist mein Vater qualvoll gestorben, ich will in Ruhe versuchen, mein Verhältnis zu ihm zu klären.
     
     

Grenzen erleben statt Zwei-Wochen-all-inclusive
     
    Der Pfad wird härter und felsiger. Fliegen, die in der Nachmittagsluft Beute suchen, landen auf meinem schweißnassen Gesicht. Ich scheine die einzige Menschenseele weit und breit zu sein und werde gleich von einem Dutzend von ihnen attackiert.
    Prompt passiert, was passieren muss. Während ich ein kurzes Gefälle auf beiden Hinterrädern hinunterrausche, verliere ich die Kontrolle und stürze. Meine Aufmerksamkeit war zu sehr darauf gerichtet, die lästigen Fliegen zu verscheuchen. Der auf der Seite liegende Stuhl lässt sich nicht aufrichten, mit Gepäck ist das Gefährt beträchtlich schwieriger zu fassen, es rutscht auf dem losen Untergrund andauernd weg. Ich fluche, so laut ich kann. Irgendwann bekomme ich den Rollstuhl wieder hingestellt und steige ein.
    Ob es richtig ist, diesen Weg allein bewältigen zu wollen? Mir fallen die forschenden Blicke einer Freundin ein, die nicht verstehen konnte, warum ich nicht einfach mal einen normalen Erholungsurlaub buchen wollte. Für einen Moment sehe ich mich im warmen Sand liegen und male mir aus, was ich mit sechs Wochen Urlaub sonst hätte machen können...
    Die welligen Erhebungen vor mir lassen keinen weiten Blick zu, dennoch ist das Naturerlebnis spektakulär. Das warme Licht der späten Nachmittagssonne strahlt die dünengleichen sandigen Hügel rotgelb an. Karge Stellen liegen neben mit Büschen übersäten Flecken, ab und zu ein Baum. Hätte es geregnet, würde hier alles grün explodieren, aber so steckt die Trockenheit in jedem Ast und jedem Erdkrümel. Die Fliegen sind verschwunden, es ist jetzt noch ruhiger als vorher.
    Ich halte an, lege den Kopf in den Nacken und blicke in den Himmel. Nichts regt sich. Es kommt mir leicht vor, in dieser Landschaft glücklich zu sein, die einfach nur zu schlafen scheint — bis zum großen Regen.
    Anders als auf meinen Trainingsstrecken in Deutschland werde ich hier nie umkehren müssen, um zum Ausgangspunkt zurückzugelangen. Ab heute will ich nur nach Norden gehen, immer weiter, und mich überraschen lassen, was mich hinter der nächsten Biegung erwartet. Und als ob ich es beschworen hätte: Bald sind es große Steinbrocken, die mir an einer engen, von Felswänden begrenzten Stelle den Weg versperren.
    Ich liege mit dem Oberkörper auf den Oberschenkeln und räume sie zur Seite, dann rudere ich mit meinen Händen durch den geschaffenen Durchgang. Es knirscht, Metall reibt an Stein, es ist mühsam.
    In diesem Tempo werde ich die Herberge auf gar keinen Fall vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Wenige Schritte weiter liegt eine felsige, zirka 80 Zentimeter hohe Schwelle. In Deutschland würde ich jetzt umkehren und diese Strecke nie wieder bewandern, aber hier ist es zum Umkehren zu spät. Und hatte ich nicht gerade beschlossen, dass es dieses Wort für mich hier gar nicht geben wird?
    Was für den Wanderer ein oder zwei große Schritte sind, bedeutet für mich einen aufwändigen Ausstieg. Ich hangle mich vom Rollstuhl heraus und setze mich auf die Schwelle, ziehe den Rollstuhl hoch und setze mich wieder hinein. Das war mir in den dreizehn Jahren, die ich nun mit einer Querschnittslähmung lebe, noch nie widerfahren. So etwas habe ich auch nicht geprobt, denn die Strecken im deutschen Mittelgebirge sind nicht felsig. Hier bleibt mir keine andere Wahl.
    Unterwegs auf unbekannter Strecke bekomme ich schon nach kürzester Zeit vor Augen geführt, was es bedeutet, in einem Körper zu leben, der nur einen Teil von Befehlen ausführen kann. Ich fühle mich hilflos und allein und außerdem getestet, ob mein Wille ausreicht, dieses lang ersehnte Abenteuer bestehen zu können.
    Lang ersehnt, weil ich mich gern in der freien Natur aufhalte und hier viele Dinge passieren, die ein Zwei-Wochen-all-inclusive-Urlaub in der Dominikanischen Republik nicht zu bieten hat. Hier kann ich Ängste überwinden, Grenzen verschieben und Wunder erleben. Deshalb bin ich hier.
    Aber das vor mir liegende Wegstück ist für mich nahezu unpassierbar. Ich bin noch nie ohne Weg mitten durch buschiges Gestrüpp ein steiles Waldstück hochgefahren, dafür ist
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