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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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beobachten.
    Das Thema Gruhuken kam nur einmal auf. Gus, der Leiter der Expedition, brachte es zur Sprache. «Nun, Mr. Eriksson», sagte er gegen Ende der Mahlzeit, «wir sind hocherfreut, dass Ihr prachtvolles Schiff auf dem ganzen Weg bis Gruhuken unser Zuhause sein wird.» Sein Tonfall war höflich, aber bestimmt, seine Botschaft war deutlich: Wir wollen nach Gruhuken und dulden keine Einwände von Ihnen.
    Das Lächeln des Norwegers gefror, doch er ging nicht auf die Herausforderung ein. Er senkte den Blick, fuhr sich mit dem Daumen über die Lippe. «Sie ist ein gutes Schiff, ja. Ich hoffe, Sie werden sich wohlfühlen.»
    Die anderen und ich wechselten Blicke, Gus nickte zufrieden. Gut. Das wäre also geklärt.
    Aber als die anderen sich später miteinander unterhielten, sah ich, dass Eriksson sie beobachtete. Seine Miene war sehr ernst. Dann wanderte sein Blick zu mir. Ich lächelte. Er erwiderte mein Lächeln nicht.
    Was immer er gegen Gruhuken ins Feld führen mag, ich bin froh, dass er es für sich behält; denn ich will es nicht hören. Ich möchte nicht, dass etwas unseren Plänen im Weg steht.
    Ich hatte mir vorgenommen, während wir Zigarren rauchten (Hugos diplomatische Weise, das Eis zu brechen), den Kapitän zu fragen, wie das ist, in der Wildnis zu überwintern, doch irgendwie konnte ich es nicht. Ich hatte dasselbe Gefühl wie als Junge, als ich Vater gern nach dem Weltkrieg gefragt hätte. Ich konnte damals nicht fragen und ich konnte heute nicht fragen, vielleicht weil ich spürte, dass es zu nichts führen, dass er mir nicht sagen würde, was ich wissen will.
    Zum Glück hatte der dicke Algie nicht annähernd so viele Skrupel. Er fragte ungeniert. Und zu meiner Verwunderung sprach Eriksson offen. Zumindest schien es so. Mir ist jedoch aufgefallen, dass es in seinen Geschichten immer um andere ging, nie um ihn selbst.
    Die beste Geschichte handelte von einem Pelztierjäger, der mit einem Kameraden in einer kleinen Hütte an der Küste von Nordostland überwinterte. Als die «Dunkelzeit», wie Eriksson sie nennt, halb vorbei war, wurde der andere Mann krank und starb. Der Jäger konnte ihn nicht begraben, weil die Erde gefroren war, und er konnte keinen Steinhügel über dem Leichnam errichten aus Furcht, dadurch Bären anzulocken. Deswegen behielt er ihn einfach bei sich in der Hütte. Zwei Monate mit einer Leiche. Dann kam der Frühling, und er wurde von einem vorbeifahrenden Schiff gerettet.
    Als Eriksson fertig war, trat respektvolles Schweigen ein. «Und als man ihn fand», fragte ich schließlich, «war er – der Überlebende – da bei klarem Verstand?»
    «Ja, sicher.» Erikssons Ton war bestimmt.
    «Aber zwei Monate … wie ist ihm das gelungen?»
    «Er hat Lieder gesungen. Die Bibel gelesen.» Er durchbohrte mich förmlich mit seinem Blick und lachte glucksend. «Nicht alle werden verrückt, Professor.»
    Ich errötete. «Ich meine bloß, es muss schwer gewesen sein.»
    «Schwer? Ja.» Er sagte es auf diese skandinavische Art, beim Einatmen, sodass es sich eigenartig anhört, wie ein Keuchen.
    «Aber ich wüsste gern», sagte Hugo, der sich vorbeugte und den Norweger mit seinem tiefen, inquisitorischen Blick fixierte, « warum ? Warum nimmt einer das auf sich, wenn die Gefahr so ungeheuer groß, die Belohnung so ungewiss ist?»
    Eriksson zuckte mit den Achseln. «Manche sind arm. Manche stecken in Schwierigkeiten. Manche suchen Anerkennung.»
    «Und Sie?», fragte ich. «Warum haben Sie’s getan?»
    Er legte die Stirn in Falten. «Ach, ich weiß nicht. Im offenen Land kann man mit beiden Lungen atmen.»
    Gus nickte. «Und ich vermute, es war noch besser, als es niemandem gehört hat.»
    «Niemandsland», sagte ich. Ich fragte Eriksson, ob er jene Zeit vermisse.
    Da geschah es. Der Norweger ließ seine Tasse auf halbem Weg zum Mund verharren und sah mich an. Seine Miene wurde starr. Seine kleinen Augen wurden ausdruckslos. Es war zermürbend. Wir haben es alle bemerkt, sogar Algie.
    Verunsichert fragte ich mich, ob der Kapitän verärgert war. Ich hatte entschieden den Eindruck, dass er mich eines Hintersinns verdächtigte.
    «Ich meinte nur die Freiheit», sagte ich rasch. «Dass man gehen kann, wohin es einem gefällt. Tun, was einem gefällt. Das – das muss doch gewiss wunderbar gewesen sein?»
    Eriksson senkte den Blick. Schüttelte den Kopf. «Nein.»
    Betretenes Schweigen.
    Dann gab Hugo dem Gespräch eine neue Wendung, und kurz darauf stellte Eriksson seine Tasse hin und ging
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