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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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musste das Physikstudium aufgeben und ein verfluchter Angestellter werden …» Ich brach ab.
    «Das habe ich nicht gewusst», sagte Gus.
    «Nun, jetzt weißt du es. Also tu nicht so, als würde es keine Rolle spielen.»
    Danach sprachen wir nicht mehr. Gus stand da, drehte an dem Siegelring an seinem kleinen Finger, und ich war verlegen – und wütend auf mich, weil ich mit alledem herausgeplatzt war. Was ist bloß in mich gefahren?
    Später
    Den ganzen Tag haben wir uns durch das Eis geschoben. Ich finde es wunderbar. Die Reinheit. Die Gefahr.
    Ein Mann im Krähennest ruft Anweisungen, und Eriksson steuert die Isbjørn langsam durch das Eis. Einmal hat er den Motor abgestellt, einige Besatzungsmitglieder haben ein Boot zu Wasser gelassen und sind fischen gegangen. Andere haben eine Leiter heruntergelassen und sind auf eine Scholle von der Größe eines Fußballplatzes geklettert, die an den Schiffsrumpf grenzte. Während sie ein Fass mit Schmelzwasser füllten, sprangen die Hunde auf die Scholle und rannten umher. Wir folgten geschwind.
    Ich konnte es nicht glauben. Vor ein paar Tagen war ich noch in London. Jetzt stehe ich in der Barentssee auf einer Eisscholle.
    Während die anderen mit den Hunden spielten, schlenderte ich bis nahe an den Rand. Nach dem Schiffsthermometer haben wir nur wenige Grad unter null, doch auf dem Eis war es kälter. Der Atem kratzte mir in der Kehle. Meine Gesichtshaut spannte sich. Und zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich Kälte als Bedrohung. Als leibliche Gefahr. Das Eis unter meinen Stiefeln war fest – und doch, dachte ich, wenige Zentimeter unter mir ist so kaltes Wasser, dass ich, wenn ich hineinfiele, binnen Minuten tot sein würde. Und das Einzige, was mich davon zurückhält, ist … noch mehr Wasser.
    Ich trat noch etwas näher an den Rand und sah hinunter. Das Wasser war grün und glasklar. Ich hatte dasselbe Gefühl, das mich zuweilen überkommt, wenn ich auf einer Brücke oder einem Bahnsteig stehe. Vom Verstand her hat man nicht die Absicht, von der Brücke oder vom Bahnsteig – oder von dieser Scholle – zu treten, aber man ist sich bewusst, dass man es könnte und dass der eigene Wille das Einzige ist, was einen zurückhält.
    Etwas glitt durchs Wasser und verschwand unter dem Eis. Ich dachte an all die Lebewesen, die unter meinen Füßen in der Dunkelheit auf Beutejagd waren.
    Jetzt, da ich dies schreibe, ist es fast Mitternacht, und wir haben das Eis noch nicht hinter uns. Ich spüre jede Wende des Schiffes. Das Zittern beim Zusammenprall, die Veränderung beim Motor, wenn wir eine freie Stelle erreichen, das gedämpfte Dröhnen, wenn wir die kleineren Schollen zur Seite schieben. Ich denke an die großen, wie sie schaukelnd Selbstgespräche führen.
    Ich vermute, Gus wollte sagen, dass der Klassenunterschied hier in der Arktis keine Rolle spielt. Ich denke, da irrt er sich; der Klassenunterschied spielt immer und überall eine Rolle.
    Aber vielleicht spielt er hier keine so große.
    31. Juli, Spitzbergen
    Am Morgen hatten wir das Eis hinter uns, und Mr. Eriksson sagte, wir haben das Sørkapp schon passiert, die Südspitze von Spitzbergen. Doch bei dem Nebel konnten wir nichts sehen. Den ganzen Tag standen wir eng beieinander an Deck und warteten darauf, wenigstens einen kurzen Blick zu erhaschen. Es wurde kälter. Wir liefen ständig in unsere Kabinen, um uns noch mehr Sachen überzuziehen. Und immer noch nichts.
    Eine Weile nach Mitternacht wurde unsere Geduld endlich belohnt. Der Nebel lichtete sich. Der Himmel blieb zwar bedeckt, doch die Mitternachtssonne hinter den Wolken warf einen matten grauen Schein auf eine befremdliche Wildnis.
    Die holländischen Walfänger des sechzehnten Jahrhunderts haben ihr den richtigen Namen gegeben: Spitzbergen. Ich habe gezackte, schneegestreifte Bergspitzen über der Mündung eines Fjords aufragen sehen, wo das schwarze Wasser spiegelglatt und mit Eisbergen gesprenkelt war. Weiter hinten schob sich ein riesenhafter Gletscher in die See hinein. Und alles so unglaublich still.
    Hugo schüttelte ungläubig den Kopf. Sogar Algie war beeindruckt.
    Gus fragte leise: «Habt ihr gemerkt, dass es fast ein Uhr morgens ist?»
    Ich wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Es war einmalig, einzigartig, mit nichts vergleichbar, das ich je zuvor gesehen hatte. Es war – einschüchternd. Nein, das ist nicht das richtige Wort. Es ließ mich unbedeutend werden. Es machte mein Menschsein unbedeutend. Ob Gruhuken auch so
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