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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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ist?
    Hugo, der passionierte Glaziologe, bat Eriksson, weiter in den Fjord hineinzufahren, um näher an den Gletscher heranzukommen, und wir reckten die Hälse zu rissigen Eiswänden und Höhlen von einem geheimnisvollen Blau. Von tief drinnen kam unheimliches Knacken und Ächzen, als hämmerte ein Riese dagegen, um hinauszugelangen. Dann folgte ein Laut wie ein Gewehrschuss, und ein gigantisches Eisstück krachte in die See, sodass das Wasser hoch aufspritzte und eine Welle entstand, die das Schiff zum Schaukeln brachte. Zersplittertes Eis verfärbte die See zu einem milchigen Blassgrün. Das Hämmern setzte sich fort. Jetzt weiß ich, warum die Menschen einst glaubten, dass es in Spitzbergen spukt.
    Doch als wir die Küste entlang nach Norden fuhren, wurde mir bewusst, dass ich trotz der ausgiebigen Lektüre den klassischen Fehler begangen hatte, mir die Arktis als leblose Wüste vorzustellen. Ich hatte angenommen, weil sie für Bäume zu weit nördlich ist, gebe es nicht viel mehr als Felsgestein. Ein paar Seehunde und Seevögel vielleicht, aber nichts wie das hier. Mit so viel Leben hatte ich nicht gerechnet.
    Große Möwenscharen hockten auf Eisbergen, flogen aufgeregt los, tauchten nach Fischen. Ein Polarfuchs trabte mit einem in seiner Schnauze flatternden Papageientaucher über eine grüne Fläche. Rentiere hoben die Geweihköpfe, um uns vorbeiziehen zu sehen. Walrosse schaukelten auf den Wellen; eins tauchte mit lautem Prusten direkt unter mir auf und sah mich mit seinen braunen Augen phlegmatisch an. Die glatten Köpfe der Seehunde ruckten an die Oberfläche; sie betrachteten uns mit derselben Neugierde wie wir sie. Algie hat einen erschossen, aber er ist untergegangen, bevor die Männer ihn an Bord hieven konnten. Er hätte auch ein Rentier erschossen, wenn sie nicht durch das Gesetz geschützt wären. Das Töten macht ihm anscheinend Freude.
    Wir kamen an einer Klippe vorbei, auf der es von Tausenden von Seevögeln wimmelte. Möwen kreischten, von den Felswänden hallte das eigenartige, rasselnde Stöhnen von schwarzen Vögeln mit Stummelflügeln wider, die Gus als Trottellummen bezeichnete. Er sagte auch, dass die Möwen tatsächlich Dreizehenmöwen waren und dass die Wikinger glaubten, ihre Schreie seien das Wehklagen verlorener Seelen.
    An vielen Stränden liegt Treibholz herum, das von der atlantischen Strömung von Sibirien angeschwemmt wurde und silbrig verwittert ist. Und Knochen: riesenhafte, gebogene Walgerippe, viele Jahrzehnte alt. Mr. Eriksson sagt, wir sind so weit nördlich, dass «tote Dinge» sich jahrelang halten.
    Aber es gibt auch andere, weniger malerische Überreste. Verlassene Minen, die zerfallenen Hütten längst verstorbener Bergleute. In einem Meeresarm sah ich von einem Steinhaufen einen Pfahl aufragen, an dessen oberes Ende ein Brett genagelt war. Ich vermutete ein Grab, aber ein Seemann sagte mir, es sei ein Claimschild.
    Diese menschlichen Hinterlassenschaften gefallen mir nicht. Ich möchte nicht daran erinnert werden, dass Spitzbergen jahrhundertelang ausgebeutet worden ist. Von Walfängern, Kohlebergleuten, Pelztierjägern, von abenteuerlustigen Urlaubern. Gottlob gibt es nur eine Handvoll kleine Siedlungen, und wir kommen nicht in deren Nähe.
    Unmittelbar vor dem Abendessen erspähte Eriksson etwas auf einer Insel und steuerte das Schiff näher heran.
    Zunächst sah ich nichts weiter als einen mit Treibholz übersäten Kieselstrand. Dann erkannte ich den auf dem Rücken liegenden fleckigen, rosa-braunen Kadaver von einem Walross. Die gelben Stoßzähne ragten aufwärts, der Leib sah eigenartig eingefallen aus wie ein riesiger, verbeulter Fußball. Dann sah ich, warum. Etwas hatte ein Loch in seinen Bauch genagt und es von innen heraus gefressen.
    Der Eisbär erhob sich hinter einem Felsblock und reckte den langen Hals, um unsere Witterung aufzunehmen.
    Es war mein erster Blick auf den König der Arktis. Aber dieser hier war nicht der schneeweiße Riese aus meiner Vorstellung. Blut und Speck hatten sein Fell schmutzig braun gefärbt; Kopf und Hals waren fast schwarz. Ich konnte seine Augen nicht sehen, doch ich habe sie gespürt. Bis zu diesem Moment hatte ich mich nie als Beute gefühlt. Mich nie so eindringlich beobachtet gefühlt von einem Geschöpf, das mich töten würde, wenn es die Möglichkeit dazu hätte. Ich starrte ihn an und spürte, dass der Tod zurückstarrte.
    Ein Schuss ertönte. Der Bär wandte den Kopf. Algie legte abermals an. Ehe er schießen konnte,
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