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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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wieder auf die Brücke.
    Ich habe dies ausführlich geschildert, weil ich versuche, daraus klug zu werden. Ich kann den Kapitän gut leiden. Ihn zu kränken ist das Letzte, was ich möchte. Aber ich sehe beim besten Willen nicht, womit ich dies getan haben könnte.
    Habe ich einen empfindlichen Nerv getroffen? Oder hält er uns einfach nur für Idioten: verrückte junge «Yentlemen», die sich leichtfertig und schlecht vorbereitet in ein Abenteuer stürzen? Vielleicht hat er deswegen die Geschichte von dem Pelztierjäger erzählt. Als Warnung.
    Aber wir sind nicht schlecht vorbereitet, und wir sind nicht leichtfertig.
    Einerlei, wie viele Geschichten er erzählt, ich fürchte mich nicht vor dem, was uns in Gruhuken erwartet. Ich bin gespannt darauf.

[zur Inhaltsübersicht]
    3
    29. Juli, Barentssee
    Jetzt weiß ich, dass ich wirklich in der Arktis bin.
    Bis heute Morgen hatten wir zwei Tage Regen, gefolgt von Nebel. Wir sind immer wieder dick eingepackt an Deck gegangen, es gab aber nichts zu sehen als den grauen Himmel, der mit der grauen See verschmolz. Mr. Eriksson haben wir auch nicht oft zu Gesicht bekommen. Seit dem Essen am ersten Abend hat er seine Mahlzeiten meistens in seiner Kabine eingenommen, und an Deck wirkt er nachdenklich. Die See war ruhig mit nur leichtem Wellengang, und Hugo und Algie haben ihre Seekrankheit überwunden. Wir haben uns an den Speckgeruch gewöhnt, niemandem ist mehr übel geworden, aber wir waren alle ein wenig eingeschüchtert.
    Und jetzt – das Eis. Mr. Eriksson zufolge handelt es sich um einen mehrere Kilometer breiten Treibeisgürtel, nichts Besorgniserregendes; die Isbjørn wird das gut bewältigen. Aber damit ist nicht annähernd beschrieben, wie es ist.
    Es war unheimlich, durch den Nebel auf die weiß gewordene See zu spähen. Gigantische, gezackte Eisschollen wie Teile eines riesigen Puzzlespiels, mit Schmelzwasserpfützen gesprenkelt, tiefblau. Ich war nicht darauf gefasst gewesen, dass es so schön sein würde. Ich hatte einen Kloß in der Kehle.
    Eriksson stellte den Motor ab, ich beugte mich über die Reling und blickte auf die schaukelnden, aneinanderrempelnden Schollen hinunter. Dann vernahm ich ein eigenartiges, rasches Platzen, ein scharfes Knacken, leise, aber stetig.
    Die anderen kamen nachschauen, was ich da betrachtete, und ich fragte, ob sie es hörten. Hugo sagte: «Oh, das sind nur Luftblasen im Eis, die der Wellenschlag zum Platzen bringt.»
    «Hört sich an, als würde es Selbstgespräche führen», sagte ich.
    Hugo schüttelte den Kopf und grinste. Der dicke Algie glotzte mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
    Gus warf mir einen verwunderten Blick zu. «Dasselbe habe ich auch gedacht.»
    Die anderen verzogen sich, Gus und ich blieben da.
    Gus beugte sich über die Reling, die Brise zauste seine blonden Haare. «Unser erstes Eis», sagte er beglückt.
    Ich nickte. «Ist o.k., nicht?»
    «O ja. Es ist grandios.»
    «Entschuldigung. Das hatte ich gemeint.»
    Er seufzte. «Weißt du, Jack, du bist manchmal ein bisschen überempfindlich.»
    «Ach, wirklich?»
    «Ja, wirklich. Es kümmert mich nicht, welche Wörter du benutzt.»
    «Du würdest es vielleicht anders empfinden, wenn du an meiner Stelle wärst.»
    «Mag sein. Aber, Jack.» Er drehte sich zu mir hin, seine blauen Augen blickten besorgt. «Jack, bitte glaube mir. Es kümmert mich wirklich nicht, welche Wörter du benutzt, mich kümmert, was du meinst. Und macht das hier» – eine ausladende Armbewegung – «nicht alles andere unerheblich?»
    «Es ist ein bisschen komplizierter», sagte ich. «Der Klassenunterschied spielt eine Rolle, weil Geld eine Rolle spielt.»
    «Ich weiß, aber –»
    «Nein, das weißt du nicht. Du hast ein Fünfundzwanzigzimmerhaus in Südwestengland und drei Automobile. Woher kannst du es da wissen? Woher kannst du wissen, wie es ist, abzusteigen, seine Chance zu verpassen?»
    «Aber du hast deine Chance nicht verpasst.»
    «O doch, das habe ich.» Ich war plötzlich wütend. «Meine Familie stand einst gut da. Nicht wie deine, aber wir hatten unser Auskommen. Mein Vater war Lehrer für klassische Sprachen. Er erlitt im Krieg eine Gasvergiftung und konnte nicht mehr arbeiten, wir mussten fortziehen, und ich musste eine Schule besuchen, wo man ‹o.k.› statt ‹grandios› sagt. Dann bekam er Tuberkulose und starb, und die Armee wollte Mutter keine Pension bezahlen, weil er die Tuberkulose nicht durch die Gasvergiftung bekommen hatte. Dann kam der Abschwung, ich
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