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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Autoren: Sigrid Löffler
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1. Kapitel
Einleitung – Worum es geht
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    Zuerst kamen die Jamaikaner, aber auch Menschen aus Trinidad und von anderen Inseln der Karibik. Sie waren eingeladen worden, in Großbritannien zu leben und zu arbeiten. Sie kamen wie gerufen, und sie schienen auch willkommen. Sie ließen sich in London nieder – die Metropole des British Empire war die natürliche Ankunftsstadt für Bürger des Commonwealth. Vier Jahrhunderte lang hatte Großbritannien Kolonisatoren in alle Welt exportiert; nun, erschöpft vom Zweiten Weltkrieg und nicht in der Lage, sein Imperium noch länger zusammenzuhalten, entließ es die Kolonien und importierte im Gegenzug die Kolonisierten.
    In mehreren Einwanderungswellen strömten diese nun ins Mutterland, auf der Suche nach einem Leben ohne Not. Der Anfang lässt sich genau datieren: Die ersten Arbeitsmigranten aus Jamaika landeten am 22. Juni 1948, als das Schiff «Empire Windrush» in Tilbury an der Themse-Mündung anlegte.
    Nach den Menschen aus der Karibik kamen Menschen vom indischen Subkontinent – Inder, Pakistanis, schließlich auch Bengalen aus Bangladesch – und dann Afrikaner aus den ehemaligen britischen Kolonien. Obwohl auch sie um ihr Kommen gebeten worden waren – England benötigte sie als billige Arbeitskräfte –, waren sie vielen Briten nicht willkommen. Wie unerwünscht sie vielerorts waren, bekamen die Zuwanderer drastisch, oft am eigenen Leibe, zu spüren. Eingeladen, aber ausgegrenzt, angefeindet und in Slums abgedrängt zu werden – diese Erfahrung war für die Zuzügler eines der Rätsel ihrer Ankunft.
    Und diese Erfahrung bedurfte der Klärung. Ein bewährtes Medium der Klärung und Selbsterklärung ist die Erzählung: Die Zuwanderer und deren Kinder begannen, sich selbst die Geschichte ihres großen Lebensbruchs, ihrer Entwurzelung und Entortung, zu erzählen – die Geschichte ihrer Migration. Sie hatten die Migration das erste Mal durchlebt und riefen sie dann als eine imaginäre Deterritorialisierung und Weltwanderung von neuem ins Leben: als Literatur. «The Lonely Londoners» heißt der Roman von Sam Selvon, der die Geschicke einer Handvoll Einwanderer der «Generation Windrush» nur wenige Jahre nach deren Ankunft erzählt – aus ihrer Sicht und in ihrem kreolisierten Englisch. Fragen der Fremde, des Anders-Seins, der Identitätssuche, der mühsamen Annäherung und Eingewöhnung werden darin verhandelt. «The Lonely Londoners» war der erste Roman über die erste Immigrationswelle. Er war Vorbote einer gerade entstehenden neuen Literatur. Längst genießt er Klassikerstatus.
    Indem sie Kulturgrenzen überschritten und damit auch erweiterten, wurden die Zugereisten zu Urhebern einer neuen Literatur des Dazwischen, des Oszillierens zwischen den Kulturen, der mehrfachen Identitäten. Sie erzählten vom Glück und Unglück hybrider Mischungen. Sie erzählten von einer Welt «in Transit», in einem beunruhigenden und widersprüchlich kodierten Zwischenraum unklarer Zugehörigkeiten. Sie brachten Kunde vom provisorischen Leben in diesem «Dritten Raum» – in einem auf Dauer gestellten Transitorium zwischen Aufbruch und Ankunft. Möglicherweise ist dieser «Dritte Raum» ohnehin der stimmigste Ort der migrantischen Moderne.
    Hybridität ist ein Leitbegriff dieser Literatur. Diese Hybridität – eigentlich ein Kampfbegriff gegen die kolonialherrliche Gewohnheit, die Welt von sich aus als Zentrum zu denken – erwies sich als Motor der kulturellen Expansion und trug dazu bei, das eurozentrische Hierarchie- und Machtdenken, das auch die Literatur beherrscht hatte, aus den Angeln zu heben. Sollte man diese neue nicht-westliche Literatur, die aus den Kolonien kam und mit ihrem gesamten kulturellen Herkunftsgepäck in den Westen eingewandert ist, «Commonwealth-Literatur» nennen? Keinesfalls, sagt Salman Rushdie, selbst ein Zuwanderer vom indischen Subkontinent. Den Terminus «Commonwealth-Literatur» weist er als diskriminierende neokoloniale Anmaßung zurück.
    Nennen wir sie also Migrationsliteratur. Das Rätsel der Ankunft ist eines der großen Themen dieser Literatur – weshalb einer der Ankömmlinge aus der ersten Einwanderungswelle, ein Westinder aus Trinidad, seinem persönlichen Herkunfts- und Ankunftsnarrativ eben diesen inzwischen sprichwörtlichen Titel
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