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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Autoren: Sigrid Löffler
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gab: «The Enigma of Arrival». Auch dieser autobiographische Roman gilt längst als Klassiker, als ein Schlüsseltext der Migrationsliteratur. Der Autor wurde später geadelt und erhielt den Literaturnobelpreis: Sir Vidia S. Naipaul. Das Rätsel der Ankunft hat dieser Zuzügler für sich jedenfalls ruhmreich gelöst. Er ist heute der Elite eines neuen ethnisch gemischten Weltbürgertums zuzurechnen – wie sie der afrobritische und in Princeton lehrende Philosoph Kwame Anthony Appiah in seinem Essay über «Cosmopolitanism» beschreibt, rühmt und als Lebensziel empfiehlt.
    In dem Maße, wie das britische Empire zerbröckelte, erwuchs im Mutterland selbst ein neues Empire, «eine neue Gemeinschaft von Untertanenvölkern», wie Salman Rushdie diesen Human-Import aus den Ex-Kolonien anklagend nennt: Eine Art innerbritische Rekolonialisierung der Entkolonisierten gehe hier vonstatten. Doch man muss diese Zuwandererghettos in England nicht zwangsläufig nur als Armutsund Ausbeutungsfallen deuten; man kann sie auch als «Integrationsmaschinen» verstehen, als «traditionelles Wartezimmer für den Zugang zur britischen Gesellschaft» – dies schlägt Doug Saunders in seiner weltumspannenden Studie «Arrival City» vor. Demnach wären die Ankunftsstädte der globalen Migrantenströme, im Westen allen voran London oder New York, als Räume der Verwandlung und des sozialen Aufstiegs zu sehen, die aus armen Menschen meist aus den landwirtschaftlichen Gebieten Asiens, Afrikas und der Karibik binnen ein, zwei Generationen Stadtmenschen machen können, die als ihr strategisches Lebensprojekt ihre eigene Urbanisierung vorantreiben und im Zuge dieses Prozesses auch ihre Zufluchtsorte gründlich verändern.
    All dies ist im höchsten Maße erzählenswert. Auch Salman Rushdie räumt ein, dass kraft dieser britischen Armutsenklaven ein «transnationaler, translinguistischer Prozess der gegenseitigen Befruchtung»in Gang gekommen ist. «The Empire writes back to the centre» lautet die Formel, auf die er diesen Prozess gebracht hat.
    In der Tat sind es die Zuwandererghettos, die so manchen bedeutenden Erzähler dieser neuen Weltliteratur hervorgebracht haben. Diese Enklaven erwiesen sich als fruchtbarer Nährboden der neuen Literatur des Dazwischen. Denn jede Einwanderungswelle in Großbritannien fand alsbald ihre Chronisten, ihre Geschichtsschreiber, ihre Helden-Epiker. Von Anfang an wurde die Immigration aus allen Ecken des zerfallenden britischen Imperiums von den Erzählungen der Einwanderer aus den Kolonien begleitet. Fremde war ihr Thema. «Fremde» – der, die, das Fremde – ist ja nicht nur ein Zentralbegriff der politischen Debatte, sondern eben ein zentrales Thema dieser Epoche, und somit auch in der Literatur.
    In ihren Romanen und Erzählungen gaben diese Chronisten der Einwanderung den Erfahrungen des Migrantentums eine Stimme und machten die kulturelle Andersheit der Zugereisten, deren anfängliche Desorientierung und deren Anpassungsmühen literarisch produktiv. Mit wachsendem Selbstbewusstsein begannen sie die Diversität zu feiern. Sie haben die englische Literatur um neue Themen und Sichtweisen, Erzählstoffe und Erzählformen, Grammatiken, Metaphoriken und sprachliche Innovationen bereichert.
    Diese Autoren schreiben Migrationsgeschichten aus der Sicht der Ankömmlinge. Es ist der Blick doppelter Außenseiter, die sich nirgends ganz zugehörig fühlen – weder im Herkunftsland noch im Zufluchtsland, erst recht nicht in den Transitländern, die sie passierten. Mit allen Kräften der Imagination und Symbolisierung verwandeln sie diese ambivalenten Erfahrungen in sprachmächtige Erzählungen. Sie nehmen das Dazwischen-Sein nicht länger als Stigma der Ausgeschlossenen hin, sie deuten es vielmehr als Vorschein des künftigen Generellen. Homi K. Bhabha, einer der führenden Theoretiker des Postkolonialismus, vermutet sogar, dass «transnationale Geschichten von Migranten, Kolonisierten oder politischen Flüchtlingen» drauf und dran seien, Hauptthema dieser neuen Weltliteratur zu werden.
    Dafür spricht vieles. Dafür sprechen vor allem die gewaltigen Migrationsschübe der globalisierten Welt, die in den letzten Jahrzehntennicht nur Großbritannien umgestülpt und gründlich verändert haben. England ist heute nicht mehr, was es vor sechzig Jahren war.
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