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Der Große Krieg: Der Untergang des Alten Europa im Ersten Weltkrieg (German Edition)

Der Große Krieg: Der Untergang des Alten Europa im Ersten Weltkrieg (German Edition)

Titel: Der Große Krieg: Der Untergang des Alten Europa im Ersten Weltkrieg (German Edition)
Autoren: Adam Hochschild
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1. KAPITEL
    Bruder und Schwester
    E inen solchen Aufmarsch hatte die Stadt noch nie erlebt. 50   000 glanzvoll uniformierte Soldaten kamen in zwei großen Kolonnen an der St.-Paul’s Cathedral zusammen. Eine wurde von dem liebenswürdigen Feldmarschall Lord Roberts of Kandahar geführt, dem beliebtesten Kriegshelden des Landes, der, knapp eins sechzig groß, auf einem weißen Vollblut saß, ähnlich denen, die er mehr als 40 Jahre lang geritten hatte, während er ein buntes Völkergemisch von Afghanen, Indern und Burmesen niedermachte, die die Frechheit besessen hatten, sich gegen die britische Herrschaft aufzulehnen.   An der Spitze der anderen Kolonne befand sich Captain Oswald Ames von den Life Guards, mit zwei Metern drei der größte Mann des Heeres. Der   traditionelle Brustharnisch seines Regiments glitzerte im Sonnenlicht, als könne er feindliche Lanzen allein durch seinen blendenden Glanz ablenken. Der Silberhelm mit langem Rosshaarbusch ließ Ames noch größer erscheinen.
    An diesem 22. Juni 1897 hatte London allein für den Straßenschmuck 250   000 Pfund ausgegeben   – nach heutiger Kaufkraft mehr als 30 Millionen Dollar. Über den marschierenden Truppen flatterten Union Jacks von allen Gebäuden, die Balkone waren mit Fähnchen und Girlanden geschmückt und an den Laternenpfählen hingen Blumenkörbe. Aus dem gesamten Britischen Weltreich kamen Infanteristen und die Elitetruppen der Kavallerie: New South Wales Lancers aus Australien, Trinidad Light Horse, Cape Mounted Rifles aus Südafrika, kanadische Husaren, Zaptich-Reiter mit quastenversehenem Fes aus Zypern und bärtige Lanzierer aus dem Pandschab. Dächer, Balkone und eigens zu diesem Anlass errichtete Tribünen waren schwarz von Menschen. Ein Triumphbogen in der Nähe der Paddington Station trug die Inschrift »Unsere Herzen   – ihr Thron«. Auf der Bank von England stand zu lesen: »Sie errang ihres Volkes ewiges Wohl.« Würdenträger füllten die Kutschen, die über die Paradestrecke rollten   – der Apostolische Nuntius teilte sich ein Gefährt mit dem Botschafter des Kaisers von China   – aber die tosenden Hochrufe blieben der offenen königlichen Kutsche vorbehalten, die von acht falbfarbenen Pferden gezogen wurde. Königin Viktoria, unter einem Sonnenschirm aus schwarzer Spitze in die Menge nickend, feierte den 60. Jahrestag ihrer Thronbesteigung. Ihr schwarzes Moirékleid war mit silbernen Rosen, Disteln und Kleeblättern bestickt   – den Symbolen der vereinigten Länder zur Glanzzeit des Britischen Weltreichs: England, Schottland und Irland.
    Patriotisch suchte sich die Sonne eine Lücke am wolkenverhangenen Himmel, kurz nachdem die Kutsche der Königin Buckingham Palace verlassen hatte. Die korpulente Monarchin, deren rundes, nüchternes Gesicht offenbar von keinem Maler oder Fotografen je bei einem Lächeln ertappt wurde, herrschte über das größte Reich, das die Welt je gesehen hatte. Ein Textilfabrikant warb mit einem »Spitzenhemd für das diamantene Thronjubiläum«, Dichter schrieben Jubiläumsoden und Sir Arthur Sullivan vom Künstlerduo Gilbert und Sullivan komponierte eine Jubiläumshymne. »Seit wie vielen Millionen Jahren steht die Sonne am Himmel?«, fragte die Daily Mail . »Doch bis zum gestrigen Tag hat sie noch nie auf die Verkörperung von so viel Energie und Macht herabgeblickt.« 1
    Viktorias Weltregiment war nicht gerade für Bescheidenheit bekannt. »Ich behaupte, dass wir die erste Rasse der Welt sind«, erklärte der spätere Bergbau-Magnat Cecil Rhodes, als er noch Studienanfänger in Oxford war, »und dass es für die Menschheit umso besser ist, je größer der Teil der Welt, den wir bewohnen.«   2 Mit beiden Auffassungen stand er schwerlich allein da. Später fuhr er fort: »Ich würde die Planeten annektieren, wenn ich könnte.« Noch wehte zwar über keinem anderen Planeten der Union Jack, aber das britische Staatsgebiet umfasste fast ein Viertel der Erde. Gewiss, ein Teil dieses Territoriums war unfruchtbare Tundra, die zu Kanada gehörte, einem praktisch unabhängigen Land. Doch die meisten Kanadier   – ausgenommen die meisten französischsprachigen und indianischen Bewohner des Landes   – betrachteten sich an diesem glanzvollen Tag voller Stolz als Untertanen ihrer Majestät, und Wilfrid Laurier, der frankophonePremierminister Kanadas, war zur Feier des diamantenen Thronjubiläums nach England angereist, wofür er im Gegenzug die Ritterwürde erhielt. Wenn sich auch einige der
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