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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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mich zu J. in dieses Auto zu setzen. Alles war braun an ihm, kommt mir im nachhinein vor,alles SA-farben, dabei hatte er nicht einmal Hitlerjunge sein dürfen, auch kein Flakhelfer, seine einzigen Sozialkontakte als Kind und Jugendlicher hatten darin bestanden, verprügelt zu werden. Am Kriegsende war er zwar schon vierzehn, aber immer noch ein Depp, und würde es zeitlebens bleiben, wie inzwischen allen klargeworden war. Übrigens gehörte mein Onkel J. zu denen, die ausgerechnet immer die lieben, von denen sie verprügelt werden. Sie entwickeln eine Anhänglichkeit sondergleichen und laufen ihren Peinigern auch noch nach. Meine Mutter sagt, sie und ihr Bruder hätten meinen Onkel, den ältesten unter den Geschwistern, stets eskortiert, sooft es möglich war. Aber es war nicht immer möglich, und war kein Boll da, so sollte er immer gleich nach Haus laufen, so schnell wie möglich, oder zu einem seiner Geschwister, das schärften sie ihm ein. Er aber blieb vermutlich einfach immer stehen und kam so unter die Räder, Tag für Tag. Es muß eine blutige Kindheit gewesen sein, und der blutige Beginn einer Jugend, bis sie ihn ins Rheinland schafften, wo er seinen Frieden hatte und sogar Konrad Adenauer kennenlernte, an dessen Rosengarten er jeden Morgen vorbeikam in seinen wahrscheinlich idyllischsten Jahren, mein Onkel im Rheinland, der behinderte Wetterauer, der Ärmste, und der Bundeskanzler grüßte höflich und wußte nichts von dem, den er da grüßte.
    Mein Onkel war auch jemand, der gern vor demSchaufenster des Waffensteinökel in Friedberg auf der Hauptstraße stehenblieb. Im Waffensteinökel auf der Friedberger Kaiserstraße hingen die graubraunen oder gelbbraunen Polohemden, sie waren bei den Jägern Mode nach dem Krieg, bis in die siebziger Jahre und eigentlich bis heute. Eine Art von Tarnfarbe, tauglich vom deutschen Wald bis hin zur afrikanischen Wüste. Rommel war wahrscheinlich auch ein Held meines Onkels. Die Jägerei und die Bergsteigerei, und seine eigentliche Heimat waren wohl die Kriegsfilme mit deutscher Beteiligung, als alle groß waren und er rückblickend noch eine Zukunft vor sich hatte und vielleicht selbst von einer gehobenen Armeestellung träumen konnte oder von seinem eigenen Panzer in Rußland. Besonders die Handfeuerwaffen hatten es meinem Onkel angetan beim Waffensteinökel. Er studierte die Marken, wußte Details oder glaubte sie zu wissen, bekam sein Heinoleuchten in die Augen und war für einen Moment, vor dem Schaufenster des Waffensteinökel, wie verzaubert, vielleicht wie andere eine Hölderlinzeile hören und plötzlich in einen entrückten Zustand geraten wegen der Schönheit des Klangs und der Tiefe der Worte. Wie wenn ein Russe Puschkin liest. So stand er vor dem Waffensteinökel und hatte seinen Zustand, auch er. Hitler und sein Reich, das war nicht seines gewesen, er hatte keinen Zutritt dazu gehabt, daraus wurde eine Sehnsucht für ein ganzes Leben, notdürftiggestillt durch die Jägerei, den Bad Nauheimer Wald, die Vögel und die Farbe Braun. Es gab ja damals neben den Frauenmagazinen auch stets die Panzer- und die Landsermagazine, wenn auch noch nicht mit hochauflösenden Fotografien zum entsprechenden Preis und in Hochglanz. Es war eine Sehnsucht, und es war ein Leben, und es war die Wahrheit, wie alles. Mein Onkel, das Tier, wie viele dachten, der Sehnsuchtsbolzen, wie ich heute denke.
    Als Kinder versuchten wir ihn zur Weißglut zu bringen, bei uns schlug er mehr oder minder regelmäßig zu. Waren meine Eltern in Österreich oder Italien unterwegs auf der Suche nach einer Ferienwohnung, die sie kaufen wollten, dann zogen er und seine Großmutter bei uns ein, das heißt, schlafen durfte er nicht bei uns, dafür mußte er in die Uhlandstraße zurück, aber er war dann oft bei uns, und manchmal auch allein. Einmal schaute er fern, einen Bergsteigerfilm mit Luis Trenker. Bergsteiger- und überhaupt Heimatfilme liebte er, amerikanische Filme schaute er nie … das fiel mir aber erst später auf. Wo die anderen bereits in den Straßen von San Francisco waren, war er noch bei der Försterhütte vom Silberwald. Filme, die zu einem Drittel der Gesamtlänge aus röhrenden Hirschen bestehen, die spektakulär Almwiesen hinauf und hinunter laufen bei fortgeschrittenem Gelbstich des Filmmaterials.
    Ich erinnere mich, daß mein Bruder mich rief, ersagte, J. guckt wieder einen Bergsteigerfilm. Wir wußten, daß J. immer in seinem entrückten Zustand war, wenn er einen
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