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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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schlußendlichen Gewaltausbruch, den wir stets und jeden Tag erwarteten, nie kam. Ich vermute, auf der Poststelle im Frankfurter Hauptbahnhof wird er nicht anders herumgelaufen sein, und ähnlich wie meine Mutter werden sie ihm ständig irgendwelche Aufträge aufgeladen haben, die er dann auch murrend ausführte, weil ihm gar nichts anderes übrigblieb, nur der komplette Mord an seiner gesamten Umwelt hätte ihn aus all dem befreien können, das wagte er dann lieber doch nicht.
    Meistens trug er graubraune Polohemden, manchmal mit Gelbstich, bleiche, muffige Farben, die sich für mich im nachhinein mit seinem Silagegeruch verbinden, so daß ich noch heute automatisch immer den Geruch des Onkels rieche, wenn ich Kleidungsstücke in diesen Farben sehe, meistens tragen sie ältere Menschen. Mit den ersten Paketen begann er dann auch erstmals am Tag in sein Hemd hineinzuschwitzen, und wie sich die Geruchslage auf der Poststation im Lauf des Tages entwickelte, ist mir bis heute nicht vorstellbar, denn auf der Post muß es noch viel schlimmer als bei uns zu Hause gewesen sein. Zu uns kam er ja immer nur, wenn er mit der Paketschlepperei fertig und der Geruch am Abklingen war.
    Zeit seines Lebens hat Onkel J. nie von einem seiner Arbeitskollegen auf der Frankfurter Poststation erzählt, ob er da Bekannte hatte, weiß ich nicht, vielleicht waren es zu der Zeit ohnehin eher Italiener, Türken oder Tunesier, die dort arbeiteten, noch war Deutschland ja ein Gastarbeiterland mit offenen Armen, wir befinden uns Ende der sechziger Jahre. Ich kann, da ich nichts darüber weiß, mir immer nur vorzustellen versuchen, wie er vielleicht doch bei dem einen oder anderen Anschluß fand, wie er bei dem einen oder anderen gewisse Sätze sprechen konnte, angeblich fachkundig, dabei doch nur wieder superlativisch, und vielleicht tranken sie sogar gemeinsam ihr erstes Bier, sagen wir nach einer Stunde, um sechs Uhr morgens, das erste Bier, die erste Verbrüderung, das erste gemeinsame Dasitzen am Tag mit starrem Blick auf den gegenüberliegenden Paketberg,den sie zu verteilen hatten, die Spanier, die Griechen, die Italiener, die Deutschen und mein Onkel J. aus der Wetterau, damit diese Pakete zu ihren Empfängern kamen, in Oldenburg, in Münster, in Wölfersheim. Sicherlich konnte man auch bei einer solchen Arbeit den Gedanken entwickeln, man sei eigentlich die zentrale Schaltstelle der Welt und ohne einen funktioniere gar nichts, denn wer den Warenverkehr leitet und ermöglicht, der ermöglicht den gesamten Zivilisationsprozeß, oder, wie sie auf der Poststation gesagt hätten: Die Pakete müssen halt ans Ziel. Mein Onkel in seiner Poststation versorgte daher sozusagen als zentrale Schalt- und Verteilungsstelle die ganze Welt, das muß für ihn wichtig gewesen sein, und vielleicht lief er tatsächlich mit einem gewissen Stolz durch die Station, bis der nächste Arbeitsauftrag kam, gefolgt vom nächsten Zischeln (immer ich), und dann gefolgt vom nächsten Bier.
    Früher trank man noch auf der Arbeit, heute ist das Trinken am Arbeitsplatz fast völlig beendet worden. Es gibt schon lange ein Trinkverbot, da gab es noch gar kein Rauchverbot, nur war das Trinkverbot nie öffentlich gemacht worden. Jeder Müllmann soff in meiner Kindheit von morgens an, die Postboten waren grundsätzlich betrunken, die städtischen Arbeiter rochen morgens bei Schichtbeginn schon nach Bier, und die Spediteure bei den Berufsgenossenschaften tranken zwischen den Fahrten nebendem Bier auch noch Schnaps. Noch als ich selbst bei der Oberhessischen Stromversorgungs-AG arbeitete, 1984, soffen alle ab eine Stunde nach Dienstbeginn. Es war ja kein Saufen für sie, es war nur eine zünftigere Art des Frühstücks, etwas Herzhaftes. Bier war ein Nahrungsmittel, es kräftigte, so dachten sie. Auch meine Mutter hatte diesen Hang zum herzhaften Frühstücken schon morgens, kam die Putzfrau (eine Auswanderin aus Serbien, damals Jugoslawien), dann wurde eine Stunde geputzt, und anschließend folgte erst einmal ein Frühstück, auf das sich meine Mutter wahrscheinlich schon die ganze Woche freute. So saßen sie um zehn Uhr morgens in unserer Küche, während mein Vater bei der Henninger Bräu in Frankfurt saß und Geld für die Familie verdiente, und hieben die Henningerflaschen auf den Tisch und schütteten sich den Sliwowitz in die Stumpen. Dazu gab es immer Paprikawurst, Zwiebeln und dergleichen, und nach einer halben Stunde hatten sie glückliche rote Gesichter für den Rest des
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