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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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Vielleicht dachte ich anfänglich sogar, er arbeite im Keller irgend etwas, das im Zusammenhang mit der Steinwerkefirma stehe. Später, als ich begriffen hatte, daß J. dort unten rein und ausschließlich »selbständig« arbeitete, ging ich aber immer noch davon aus, daß er tatsächlich etwas mache und irgend etwas schaffe oder zumindest repariere. Es lagen auch kleine Generatoren und Motoren und Schalter herum, und allein weil sie da herumlagen, dachte ich, J. kenne sich mit all diesen Dingen aus und begreife sie. Tatsächlich nahm er diese Gegenstände bloß mit, wenn sie in der Firma weggeworfen wurden, schraubte sie zu Hause auf, stierte hinein und begriff überhaupt nichts, denn er war hauptsächlich, auch wenn man es nicht auf den ersten Blick sah, ein Idiot. Er machte es nicht einmal wie gewisse Phantasiekünstler, die aus verschiedenen Materialien, Teilen und übriggebliebenen, für ganz anderes gedachten Gegenständen Collagen oder seltsame, funktionslose Apparaturen oder Mobiles zusammensetzen, die wenigstens durch ihre Größe oder durch die Anzahl der Einzelteile, aus denen sie bestehen, und durch ihre phantastische Form für ihre Schöpfer etwas Werkhaftes darstellen. Nein, ich glaubte damals bald und bin noch heute der festen Überzeugung, daß es für J. in seiner Werkstatt ausschließlich um eines ging: nämlich in der Welt dort oben, und insbesondere in der Welt des drei Kilometer entfernten Steinmetzbetriebs, dazuzugehören. Dem Bericht meiner Mutter zufolge war mein Onkel J. von seinem Vater, meinem Großvater, nie akzeptiert worden, was auch immer dieses Wort im Hinblick auf meinen Onkel bedeuten mochte. Ich selbst hatte Onkel J. damals ja nicht nur nie akzeptiert, er war vielmehr, so wie er aussah und sich verhielt, das Urbild des Grauens für mich in meiner Kindheit, und auch wenn ich inzwischen begriffen habe, daß mein Onkel ein Mensch war, der stets mit einem Fuß im Paradies geblieben ist, so ist mir trotzdem nach wie vor nur schwer vorstellbar, wie ich damals manchmal eine ganze halbe Stunde mit ihm im Keller verbringen konnte. Wahrscheinlich mußte ich zu ihm in den Keller, wenn meine Großmutter zum Schade & Füllgrabe einkaufen ging oder sich mit einer Freundin traf. Ich kann mich an meine Unruhe dort unten erinnern. Obgleich ich jedesmal inständig hoffte, bald wieder aus dem Keller herauszukommen, betrachtete ich trotzdem immer wieder J.s Feilen und Bohrenund Schleifen, war verwundert und fragte am Ende doch wieder nach (es kam mir gar nicht in den Sinn, diese Fragen endlich einmal sein zu lassen). Anschließend ärgerte sich J. immer wütender in sich hinein – er machte währenddessen seltsame Zischlaute und schüttelte einen Schraubenschlüssel oder eine Rohrzange in seiner Hand, als wolle er auf irgend etwas eindreschen und am Ende auf mich – und irgendwann kam die Großmutter und erlöste mich.
    Wie ungewöhnlich es war, daß dort unten im Keller ein ganzes Badezimmer für meinen Onkel eingerichtet war, begriff ich damals nicht. Der Ort, die Uhlandstraße, hatte für mich ja keine Geschichte, sondern war für mich, das Kind, schon seit Ewigkeit da (ich empfand mich selbst ja auch als schon immer da). Und weil schon alles immer da war, brauchte es für all das ebensowenig eine Begründung, wie man für die Sonne oder die Schwerkraft eine Begründung braucht. In den ersten Jahren meines Lebens geschahen auch noch zu wenige Veränderungen, um mich auf den Gedanken zu bringen, die Welt, insbesondere was die Menschen angehe, unterliege einem steten Wandel. Ich hatte keine Ahnung davon, wie sie sich von Generation zu Generation änderte. Meine Existenz war damals eine ewige, und ewig war jeder Tag, weil alles festgefügt war. Eine Frage wie »Warum ist da eigentlich im Keller ein ganzes Badezimmer mit Dusche, Wanne und Toilette eingerichtet?« konntegar nicht aufkommen. Eigentlich verwunderte mich dieses Badezimmer erst, als ich erstmals nach mehr als zwanzig Jahren den Keller in der Uhlandstraße wieder betrat. Wie es aussah! Es war ein einigermaßen hell und vollständig gekachelter Raum im Souterrain, in dessen Bodenmitte sich ein Abfluß befand, ein kleines Fenster auf Kopfhöhe, nirgends Zierat, ich mußte sofort an Gestapokeller denken oder zumindest an Aki-Kaurismäki-Filme. Als Kind, als ich drei, vier Jahre alt war, existierten weder Gestapokeller noch Kaurismäkifilme, sondern eine totale, unveränderliche, unwiderrufliche Welt, in der alles festgefügt war außer mir,
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