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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer
Autoren: Andreas Maier
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Familieneinkommen bei, wenn auch nur geringfügig, und sogar sein zu erwartender Rentenbetrag war ansteigend. Der Onkel war, wie jeder, ein Rechnungsfaktor im monetären Gesamthaushalt der Familie. Von Anfang an hatte er Geld gekostet, aber lange Zeit keines eingebracht. Drei Jahrzehnte hatte man ihn so durchkommen lassen, aber spätestens mit meinem Vater, dem Steuerbeamten und späteren Rechtsanwalt, hielt endgültig die moderne Zeit Einzug in die Familie Boll, man dachte nun hauptsächlich in den Kategorien von Sozial- und Rentenversicherung, und also war Onkel J. nun Postangestellter, vielleicht hielt er sich sogar seitdem für einen Postbeamten und schaute um so stolzer in den Spiegel, wenn auch ohne Uniform, die er wahrscheinlich gern gehabt hätte. Seine Arbeit bestand aus Paketeschleppen, anschließend duschten sie, er nicht. Erfuhr ungeduscht nach Hause. Aber noch ist gerade erst Schichtbeginn. Ich vermute, daß sie damals im Postlager nicht einmal Arbeitskleidung hatten, sondern nur ihre Privatwäsche, die sie anschließend in Säcken nach Hause trugen, um sie zu waschen, bzw. mein Onkel am Körper. Vermutlich hat mein Onkel im Postlager beim Schleppen die ganze Zeit vor sich hingemurrt, das tat er immer, wenn er etwas tun sollte. Er nahm jeden Auftrag mit dienerischem Buckeln entgegen, verfiel aber sogleich darauf in Murren und Zischeln. Das tat er auch bei uns daheim, und er murrte vor allem dann, wenn er sich gerade auf etwas ganz anderes gefreut hatte. Wenn er zu uns nach Hause kam, war sein erster Gang immer an den Kühlschrank. Er öffnete über dem Kühlschrank den Schrank mit den Henninger Glasbierkrügen, nahm sich einen Krug, dann machte er den Kühlschrank auf, holte ein Bier heraus, entkronte die Flasche und goß sich ein. (Unsere gesamte Familie lebte vom Haustrunk der Henniger Bräu, wir bekamen vier Kisten in der Woche.) Noch am Kühlschrank stehend, trank er das Bierglas zur Hälfte aus, begleitet von einem Genußgeräusch, das so widerlich klang wie nur irgend etwas auf der Welt. In diesem Augenblick aber ertönte meist schon der Ruf meiner Mutter. J., rief sie, du kannst gleich noch ein paar Flaschen Bier aus dem Keller hochholen zum Essen! Und Wasser kannst du auch hochholen! Stand meine Mutter inder Küche, buckelte er und lief mit wutverzerrtem Gesicht los. Rief meine Mutter aber vom Eßzimmer aus herüber, wo sie vielleicht gerade den Tisch deckte und ihren Bruder also nicht sehen konnte, wie er gerade in der Küche am Glasschrank stand, dann verzog sich sein Gesicht zu schierem Haß. Manchmal sah ich das zufällig. Dann wiederholte er leise und zornig die Worte meiner Mutter. J., tu das, J., tu das, zischelte er vor sich hin, und es gipfelte stets in Sätzen wie: Immer muß ich das Bier aus dem Keller holen, immer soll ich das Wasser aus dem Keller holen, immer soll ich dies tun, immer soll ich das tun! Er konnte Ich sagen, mein Onkel, so viel immerhin konnte er. Den ganzen Weg in den Keller hinab begleiteten ihn diese Zischelsätze aus seinem Mund mit dem Ich darin, und kam er währenddessen zufällig an mir vorbei (das konnte nur zu der Zeit geschehen, als ich noch ein Kind war – später flüchtete ich, wenn er da war, immer sofort auf den Friedhof oder an einen anderen Ort, um dort Luft zu holen und tief durchzuatmen, bis er wieder weg war), dann zischelte er einfach weiter und blickte mich dabei aus den Augenwinkeln an wie ein Tier, das sich verfolgt weiß, bzw. wie ein Hund, der sich erwischt fühlt, je nachdem. Vor diesen Begegnungen fürchtete ich mich immer. Manchmal stand ich aber auch im Hausarbeitsraum und hörte ihn nur vom Gang her zischeln. So stieg er die Treppe in den Keller hinab, kam nach einer Minute wieder herauf und lud seine Ladung in der Küche ab. Dann nahm er den halbgeleerten Bierkrug, zischelte in ihn hinein, bis das Zischeln in ein Trinken überging, unterbrochen wieder von meiner Mutter: J., draußen in der Garage stehen vier neue Kisten Bier, bring die doch noch schnell in den Keller! Im nachhinein kommt es mir vor, als habe J. immer etwas aus dem Keller holen oder in ihn hinunterbringen sollen. Er sagte meiner Mutter, seiner Schwester, nie ins Gesicht: Immer soll ich in den Keller! Aber er zischelte es, auch in ihrer Gegenwart. Wenn er zischelte, glaubte er, man verstehe ihn nicht, dabei verstanden wir ihn immer. So lief er durch unser Haus wie eine permanente Bedrohung, obgleich er gegen alle, bis auf uns Kinder, immer friedlich blieb und es zu dem
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