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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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entladen. Bis zum Mittag wurde es dann so heiß wie alle Tage; allerdings nicht auf dem Turm, eine unerträgliche Hitze gibt es nicht auf dem Turm. Die dicken Mauern saugen die Kälte des Winters an, bis sie davon durchdrungen sind, und geben sie fein dosiert den ganzen Sommer lang ab. Bevor der letzte Hauch von Kühle verbraucht ist, kommt ein neuer Winter.
    Der Türmer gab die tägliche Wettermeldung durch, überprüfte die Kontrollleuchten für Licht und Rauchwarner, brachte sein Lager in Ordnung, rasierte sich, schaffte das Geschirr in die Miniküche, gestaltete draußen den Schreibtisch zur Theke um, indem er alles Notwendige bereit legte, befüllte den Postkartenständer, schloss die Fenster. Das alles, ohne dass das Mädchen auch nur einmal den Kopf gehoben hätte, soweit er das sehen konnte.
    Er ging hinunter, um den Turm aufzuschließen. Er holte beim Bäcker Brot und vom Laden nebenan Obst. Als er in  die Türmerstube zurückkam, lag Veronika auf seinem Bett. Auf seinem Bett!
    Sie verschlief den ganzen Tag.
    Sie aß am Abend von seinem Brot und bereitete sich aus den Decken, die er ihr gab, ein Lager im Vorraum, wo sie ihre zweite Nacht verbrachte. Fünfmal stieg er, wie jede Nacht, zum Kranz hinauf, um der alten Tradition Genüge zu tun und den Wächterruf über der schlafenden Stadt erschallen zu lassen; fünfmal lag das Mädchen unverändert da.
    So schlafen zu können!
    Der Türmer selbst schlief unruhig. Wie ein Gallenstein hatte sich Veronika bei ihm eingenistet, und er wusste keine Medizin dagegen, denn den Griff zum Skalpell brachte er aus irgendeinem Grund nicht fertig.
    Gesprächig ist sie bisher auch nicht gewesen. Die Kommunikation zwischen ihnen beiden beschränkt sich auf ein paar dürre Höflichkeitsformeln, die man auch einsparen könnte, in letzter Konsequenz. Heute hat sie fast den ganzen Tag über in einer Ecke der Türmerstube gelegen, nicht auf seinem Bett, sondern am Boden auf den Decken, die er ihr für ihr Nachtlager überlassen hatte und die sie natürlich tagsüber nicht im Vorraum lassen konnte. Die vielen Besucher hinderten ihn daran, öfter als drei-, viermal die Tür zu öffnen und einen prüfenden Blick in seine Stube und auf das Mädchen am Boden zu werfen. Die letzten Gäste hat er nun hinausbefördern, ja, buchstäblich hinausdrängen müssen, um ordnungsgemäß abschließen zu können.
    Als er in die Türmerstube kommt, liegt Veronika nicht mehr zusammengerollt in ihrer Ecke. Sie steht mitten im Raum, die Arme leicht angehoben, die Augen geschlossen, den Mund lauschend geöffnet - wie jemand, der vielleicht auf einem Grat balanciert und dazu alle Konzentration braucht. Sie hebt warnend den Finger.
    Der Türmer wendet sich ab. Warum bist du nicht in die  Küche gegangen und hast dich umgesehen und hast eine Kleinigkeit gekocht, würde er gern sagen, du hattest doch den ganzen Tag Zeit dazu. Aber er tut es nicht. Solche Worte könnten ihr eine Art Gastrecht einräumen.
    Er holt aus Brotkasten und Kühlschrank, was fürs Abendessen geeignet scheint. Butter, Käse, Obst. Dazu gibt es kalten Pfefferminztee, den er schon am Morgen als Tagesvorrat gekocht hat, einen großen Topf voll. Er fragt Veronika nicht, ob sie Pfefferminztee will. Er gießt ihr einfach ein.
    Sie beendet ihre Balanceübung und öffnet die Augen.
    »Der Turm schwankt«, sagt sie.
     

7
    Veronika rutscht auf ihren Platz am Tisch, den der Türmer fürs Abendbrot gedeckt hat. Zwei Nächte und zwei Tage lang hat sie fast nur geschlafen. Geschlafen, um nicht denken und nicht entscheiden zu müssen, geschlafen, um sich zu entziehen. Doch nun fängt der Schlaf an, löchrig zu werden wie uralter Stein, er fängt an zu lecken und Gedanken einsickern zu lassen. Veronika braucht eine neue Strategie. Wenn der Schlaf nicht mehr zuverlässig ist, müssen die Gedanken abgeleitet werden, egal in welche Richtung, nur weg von der einen, die so furchtbar wehtut.
    »Darf ich das Fenster öffnen?«, fragt sie ohne wirkliches Interesse. Da draußen sollte ein Wind gehen, obwohl es nicht danach aussieht. Aber woran würde man hier oben schon einen Wind erkennen, an jagenden Wolken vielleicht, an sonst nichts. Zu spüren ist er vielleicht, wenn man die Hand hinaushält, selbst dann, wenn er nicht kräftig genug ist, Wolken zu jagen.
    »Warum fragst du plötzlich? Du hast mich doch auch nicht gefragt, ob du mein Bett benützen darfst«, sagt der Türmer, ohne zu lächeln.
    »Ja... Aber kann ich jetzt das Fenster
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