Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
Vom Netzwerk:
klammert sich an den Glockenrand, er stürzt nicht ab, aber die Glocke kippt, sie schlägt an, tief und schwer. Und ist über Stadt und Land zu hören.
    Der Türmer lehnt an der Wand und spürt sein Herz klopfen. Es dauert eine Weile, bis er sich erholt. Endlich sperrt er die Tür wieder zu, mit Händen, die zittern, und steigt langsam nach oben.
    Das Mädchen schläft.
    Der Türmer öffnet alle acht Fenster, die vier im Vorraum, die drei in der Türmerstube und das eine in der Küche. Der Turm hat acht Ecken und damit auch acht Wandflächen, in jeder Wand ist ein Fenster. Ein vollkommen harmonisches Maß. Ebenso vollkommen wie das wuchtige Viereck, auf dem der Turm errichtet ist und das nach oben wächst und auf halber Höhe im steinernen Kranz seinen Abschluss findet, im unteren Umgang, der nur zu besonderen Anlässen zugänglich gemacht wird. Darüber sitzt die Glockenetage, achteckig, mit vier hohen Schallfenstern, eines nach jeder Himmelsrichtung. In vollkommenem Ebenmaß an den vier Wänden dazwischen die Stützpfeiler, die die vier Ecken des unteren Turms nach oben tragen, bevor sie in gotischen Ziertürmchen auslaufen.
    Über den Glocken weitere Etagen, eine davon mit acht großen Fenstern, die niemand öffnen kann, es sei denn, er verstünde es, auf Balken zu gehen. Über diesen Fenstern, die blind vom Staub sind, liegen die kleineren Fenster der Türmeretage, blank geputzt, und lassen weit geöffnet den Sommermorgen herein.
    Der Türmer geht in die Stube und von dort in seine kleine Küche. Aber er bereitet kein Frühstück zu. Er schneidet zwei Scheiben Brot ab und bestreicht sie mit Butter. Er nimmt einen Apfel, eine Birne und eine Banane und packt alles in eine Tüte. Die trägt er zusammen mit dem Reisesack hinaus zu der Ecke, in der Veronika schläft.
    »Aufstehen, Lady«, sagt er. Während er beobachtet, wie sie erwacht und verwirrt den Kopf hebt, fällt ihm auf, dass er sie seit dem ersten Morgen nicht mehr Lady genannt hat.
     

9
    Der Amerikaner hat sie einfach hinausgeworfen. Ziemlich grob sogar. Hat ihr eine Frühstückstüte hingeknallt, dazu den Reisesack, und sie nur eben noch aufs Klo gehen lassen, bevor sie wegmusste, runter und raus in die Stadt, die noch im Tiefschlaf liegt. Jetzt dreht er hinter ihr den Schlüssel um. Davor seine Armbewegung wie schon einmal. Und ein graues, erschöpftes Gesicht. Ein Abschiedsblick ohne Lächeln.
    Unzählige Stufen ist Veronika vor dem Amerikaner hinabgegangen, willenlos, von einem stärkeren Willen getrieben. Doch einmal ist auch der höchste Turm zu Ende, einmal ist es vorbei und man steht allein auf einem fremden Platz. Veronika horcht dem Schlüssel nach, ein Geräusch wie ein Urteilsspruch, böse, endgültig.
    Der Amerikaner stapft jetzt wieder hinauf in seinen Turm. Sie aber steht ausgeschlossen da, die Turmwand kühl im Rücken, und weiß nicht, wohin. Entferntes Brummen dringt in die stille Stadt, es ist der Verkehr auf der Umgehungsstraße. Autos von irgendwoher nach irgendwohin. Autos mit Menschen darin, überall. In allen Städten, auf allen Straßen. Gleichgültig wie alle anderen war auch der Fahrer, der sie neulich bis zur Stadt mitgenommen hat - es ist viel zu weit gewesen zum Laufen -, der an einer Ampel angehalten hat und dann weitergefahren ist, um die Stadt herum und irgendwohin.
    Irgendwohin wie Mattis.
    Solange Veronika auf dem Turm war, ist Mattis nach Süden gefahren, ist in Italien angekommen, hat alles gemacht, was sie zu zweit geplant hatten, von der Quartiersuche angefangen. Und wird das noch weitere zehn Tage tun, ungefähr. Mattis tut immer, was er sich vorgenommen hat. Nur sie nicht. Sie weiß nicht einmal, was sie sich vornehmen könnte. Sie weiß überhaupt nichts. Sie, Veronika, hat ihn, Mattis, gewollt.
    Pech, dass Mattis mehr will. Neben ihr eine Menge anderer Sachen, vor allem sein Amerikajahr. Dass er gar nicht begriffen hat, wie das für sie ist, wenn er weggeht. Dass sie sich verlieren werden.
    Der Abschiedstrip nach Italien - ist das eigentlich seine Idee gewesen oder ihre?
    Sehr wahrscheinlich ihre, ja, Veronika weiß es plötzlich. Und Mattis hat mitgemacht, um Diana etwas erzählen zu können, denn Diana hätte Italy so gern gesehen, ist aber nicht mehr dazugekommen.
    Veronika stößt sich von der Wand ab, wirft sich den Sack über den Rücken und marschiert los, Richtung Stadtrand. Vom Turm aus kommt man immer zum Stadtrand, mit gleichem Zeitaufwand, egal in welche Richtung man geht. Sie hat das von oben gut
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher