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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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ihren Transportern und Hängerzügen weiterrauschen - ohne sie.
    Sie hat ja gar keine Adresse. Wo in Italien sollte sie denn nach Mattis suchen?
     

10
    Der Türmer sitzt den ganzen Tag hinter seiner Theke. Er reißt Karten von der Rolle, gibt Auskunft und passt auf Gepäck auf, das sie bei ihm ablegen, weil sie unbeschwert zum Kranz hinaufsteigen und um den Turm wandern wollen. Oben geht es eng zu, man kommt kaum aneinander vorbei, so schmal ist der Umgang.
    An einem Sommertag wie diesem besuchen sie den Turm zu Hunderten, der Strom reißt nicht ab. Sodass der Türmer weder eine Mittagspause hat noch die nachmittägliche Wettermeldung durchgeben kann. Aber die Leute vom Wetteramt kennen ja seine Situation und sehen es ihm nach.
    Er hat am Morgen, vor Beginn des Ansturms, die Außentemperatur abgelesen, ein Wölkchen in etwa tausend Metern Höhe geortet, blauer Himmel, kein Niederschlag. Mit dem Fernglas hat er ein bewegtes Objekt gesucht, um Windrichtung und Windstärke nach seiner Schätzung melden zu können. Doch kein Blättchen hat sich gerührt und die Fahne auf dem Dach des Einkaufsmarktes draußen vor der Stadt hing lahm an ihrer Stange.
    Keine Notwendigkeit, mit dem Fernglas zum Kranz hinaufzusteigen, denn die Fenster in der Türmeretage genügen für die tägliche Wettermeldung. Trotzdem stand der Türmer plötzlich auf der Treppe und hat dann das Fernglas nach unten gerichtet, zur Stadt, in die Gassen rings um den Turm, zur umlaufenden Stadtmauer, zu den Toren. Nicht dass es da  unten ein verlässliches bewegtes Objekt für seine Meldung gäbe. Die Straßenschluchten verfälschen: Pfeift ein Wind um die Ecke und bläst eine Plastiktüte vor sich her, so bedeutet das gar nichts.
    Warum er das Mädchen da unten gesucht hat, weiß der Türmer nicht. Warum er von seiner Theke aus gründlicher als sonst den Treppenschacht im Auge behält, aus dem die Besucher nach oben wachsen, warum er immer wieder zum Monitor schaut, der den Turmeingang überwacht - er könnte es nicht sagen, seine Unruhe lässt sich nicht ergründen. Eine Unruhe, die sich eingenistet hat wie zuvor Veronika, ein ungebetener Gast wie sie. Notfalls muss auch die Unruhe ausgetrieben werden. Doch noch ist zu hoffen, dass sie ihn nach diesem geschäftigen Tag und nach so vielen fremden Köpfen, unter denen nicht ein orangefarbener ist, ganz von selbst verlässt.
    Über ein mögliches Orangerot gibt der Monitor sowieso keine Auskunft, er hat nur Grautöne. Auch werden die hereindrängenden Besucher von keinem Scheinwerfer angestrahlt, sondern steigen im Halbdunkel die Treppe herauf, insofern kann es zu Irrtümern und voreiligen Schlüssen kommen. Der Monitor ist auf Kniehöhe des Türmers, sodass Neugierige sich über den Schreibtisch beugen müssten, wenn sie einen Blick erhaschen wollten; sie würden Schattengestalten vorüberziehen sehen und plötzlich erhobene Gesichter, denn jeder Besucher schaut auf der Treppe erst einmal nach oben und damit genau hinein ins Auge der Kamera.
    Zwei Jungen haben soeben die Kamera entdeckt, sie springen hoch und zeigen dem Türmer ihre feixenden Gesichter. Ihre Eltern folgen ihnen, sie lächeln in die Kamera und widmen sich dann wieder den Stufen. Als die Familie verschwunden ist, macht die lautlose Bewegung der Schattengestalten auf dem Monitor endlich einer grauen Leere Platz.
    Die Turmuhr schlägt halb acht.
    Der Türmer seufzt erleichtert. Ein paar Leute kommen noch herauf, darunter die beiden Jungen mit ihren Eltern, man hört Gepolter und undeutliche Stimmen im Turm. Sobald sie hier sind, werden sie ihr Ticket lösen, zum Kranz hinaufsteigen und eine eilige Runde um den Turm drehen, denn für ein Verweilen ist keine Zeit mehr. Der Türmer wird sie zusammen mit dem Pärchen, das umschlungen am Westfenster steht, bitten hinunterzugehen. Danach wird er den Kranz kontrollieren, die Türmerstube, die Toilette und jeden Winkel, der sich als Versteck eignen könnte, bevor er auch hinabgeht, die Reklametafel hereinholt und den Turm abschließt.
    Nach einer durchwachten Nacht und einem geschäftigen Tag wird er in der Stille seines Turms schlafen wie ein Mensch, der eine schwere Sorge losgeworden ist und den nun hoffentlich nichts mehr drückt.
     

11
    Veronika stützt sich auf das Geländer des überdachten Wehrgangs, die Stadtmauer im Rücken, den Reisesack zu ihren Füßen. Hinter ihr ist es bereits dunkel, die Schießscharten in den tiefen Nischen sind fast nicht mehr auszumachen. Aber auch die Dächer der
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