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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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genug gesehen, von den Fenstern der Türmeretage aus: Der Turm steht in der Mitte der kreisrunden Stadt wie in einem Spinnennetz. Die Straßen, die zur Stadtmauer führen, sind die Hauptfäden des Netzes, in das die Querfäden der Seitenstraßen und kleinen Gassen hineingewoben sind. Man geht also einfach zu einem der Tore und ist draußen. Dann schaut man zum Himmel, ermittelt, wo Süden ist, und stellt sich mit abgespreiztem Daumen an die Straße.
    Der Reisesack schlägt in ihren Rücken und der Frühstücksbeutel schlenkert in ihrer Hand, als Veronika in Dauerlauf fällt. Sie hört, wie ihre Schritte von den morgenkühlen Hauswänden zurückgeworfen werden, in den schmalen, gepflasterten Straßen, die sie vom Turm weg zur Stadtmauer bringen und die hier unten doch nicht so zielgerade sind, wie es von oben den Anschein hatte. Sie rennt, denn da draußen nähert sich bereits der Wagen, der sie nach Süden mitnehmen wird. Er fährt ahnungslos vorüber, wenn sie nicht schnell genug läuft.
    Das Tor.
    Doch von der Umgehungsstraße ist noch nichts zu sehen. Veronika hastet weiter. Häuser zu beiden Seiten der Ausfallstraße, gewöhnliche Häuser, hässliche Häuser, Billigfassaden, anders als die historischen Gebäude drinnen. Eine Tankstelle, ein Beerdigungsinstitut, eine Billigpizzeria, geschlossen, irgendwelche Büros und Kleinbetriebe. Dann Mehrfamilienhäuser, grau vom Staub des trockenen Frühsommers. Auch die kümmerlichen Bäume sind grau und nicht dunkelgrün wie die Bäume auf dem Marktplatz, die irgendeinen geheimen Regen abbekommen haben müssen.
    Veronika schaut zurück, dann wieder nach vorn. Eine Kurve, das Brummen nimmt zu - und endlich die Ringstraße. Eine grüne Ampel. Fahrzeuge donnern vorüber, die meisten Kennzeichen haben dieselben drei Buchstaben, die Buchstaben von hier. Fremde Kennzeichen sind rar, logisch, zur Autobahn ist es ein schönes Stück. Veronika könnte nicht sagen, wie weit, wie lange, sie besitzt keine Karte. Sie hat auch nicht auf Mattis’ Karte geschaut, als sie von ihm verlangte, die Autobahn zu verlassen und über Land zu fahren.
    Warum hat sie das gewollt?
    Um der Zeit ein Schnippchen zu schlagen, um mehr herauszuschinden, sich irgendwo zu verlieren, vielleicht. Um aus der rollenden Kolonne nach Süden auszubrechen, denn auf der Gegenautobahn bewegte sich unerbittlich die Kolonne nach Norden, in der sie sich und Mattis zu ihrem Entsetzen bereits mitrollen sah. Klar wie sonst was: eine Hinfahrt, zwei Wochen an einem Strand und im Zimmer, die pünktliche Rückfahrt. Der Flug ist gebucht. One way, one passenger, no return.
    Mattis hat nachgegeben, war dann aber so gereizt und mit der Karte beschäftigt, dass keine Freude aufkam an irgendwelchen Dörfern in Talsenken oder an einer Burgruine auf einem Hügel, einem Gasthof im Wald, einem verlassenen See, einem Wegweiser nach Werweißwohin. Mattis hatte nur ein Interesse: die nächste Autobahnauffahrt zu erreichen. Veronika hat von einem gewissen Moment an tränenblind zum Seitenfenster hinausgesehen.
    Und dann plötzlich der Waldparkplatz auf dem Hügelkamm und eine auffallend runde Ansammlung von roten Dächern in der Ebene mit einem grauen Turm darin. Wie ein dicker Pfahl steckte der Turm mitten im Rot und war von einem fremden, fernen, uralten Grau, das nirgendwo sonst vorkam. Halt!, hörte sich Veronika rufen und sah sich fuchteln, und Mattis verriss das Steuer, sodass sie schleudernd in den Parkplatz einbogen. Veronika hatte keine Rechtfertigung dafür, ihr war weder übel noch sonst was, sie wollte einfach auf den Turm.
    Es war ein hirnrissiger, völlig idiotischer Wunsch. Aus Mattis’ Sicht. Es war ein logischer Wunsch, es war ein Ausbruch aus der Unerbittlichkeit. Es war ein Strich durch Mattis’ Pläne. Eine Anmaßung, eine Verzweiflungstat; wie ein Kind das geglückte Bauwerk eines anderen umstößt, damit der andere neu beginnen muss und das Kind sich beteiligen kann.
    Die Ampel hat längst umgeschaltet, Fahrzeuge sammeln sich davor. Sie fahren an und entfernen sich. Neue kommen und brausen durch. Unter ihnen ist vielleicht der Fahrer, der Veronika mitgenommen hatte.
    Als die Ampel wieder rot ist und alle Autos stehen, weicht  sie endlich vor neugierigen Augen zurück und vor den einladenden, anzüglichen Blicken mancher Fahrer. Sie dreht sich um und fängt zu laufen an, zurück in die Stadt, bis sie den Verkehr auf der Umgehung nur noch hören kann. Sollen sie da draußen in ihren Kleinlastern und Baufahrzeugen, in
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