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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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dass seine Finger sich plötzlich gezielt bewegen: Sie ordnen die Brotkrümel zu unterschiedlichen Mustern an, zu Spiralen, Kreisen, Quadraten. Mit der linken Hand wischt er die Figuren zu einem Krümelhäufchen zusammen, aus dem er mit drei Fingern der rechten Hand sogleich etwas anderes formt. Zuletzt entsteht in Sekundenschnelle der Umriss eines fliegenden Vogels. Der Amerikaner schaut nicht auf. Er pickt den Vogel Krümel für Krümel vom Tisch und kaut das Brot mit entrücktem Gesicht.
    Veronika fühlt eine Gänsehaut über ihre Arme huschen. Sie bewegt sich und stößt dabei ihr Glas um.
    Der Amerikaner hört auf zu kauen. Er wirft einen Blick auf das Glas, es war bereits leer, dann studiert er die restlichen Krümel zwischen seinen Händen. Ein halber Vogel, wenn man weiß, dass es einmal ein ganzer war. Er runzelt die Stirn.
    Veronika nimmt das Glas und stellt es auf. Sie muss nicht mehr unbedingt wissen, warum dieser schrullige Mensch hier Turmwächter spielt. Vielleicht ist er nicht ganz richtig im Kopf. Oder einfach nur ein Wichtigtuer. Alle Wichtigtuer  machen etwas und haben ihre Gründe dafür. Genau wie Mattis. Mattis sowieso. Er will etwas, tut etwas und tut es ohne Rücksicht auf andere. Er hat sein Abitur geschafft und geht jetzt nach Amerika für ein ganzes Jahr. Sie dagegen hat das Abi versiebt, geniale Leistung, und darf wiederholen. Für Amerika war sie sowieso nicht eingeplant. Und er nimmt sie auch nicht mit, wenn sie die Schule hinwirft.
    Sie schaut mit brennenden Augen zum Fenster hinaus. Dorthin, wo sie ihren letzten Fehler gemacht hat.
    Da sagt der Amerikaner: »Du hast gefragt, ob ich hier hängen geblieben sei. Ja, das bin ich.«
    Sie dreht sich verdrossen zu ihm um.
    »Hängen geblieben, eine bemerkenswerte Formulierung. Deshalb sollst du eine Antwort bekommen. Immerhin teile ich auch mein Essen und mein Dach mit dir. Mein Name ist James Mayne. Für die Stadt bin ich Mr James, der Amerikaner, der für immer auf dem Turm bleiben will. Oder jedenfalls so lange, wie er den Job machen kann. Du konntest das nicht wissen, du bist nicht von hier.«
    Veronika starrt ihn an, ein bisschen überwältigt von seinem plötzlichen Ausbruch.
    »Sprache ist verräterisch. Du hast für immer gesagt. Ohne es wissen zu können. Ich bin beeindruckt.« Er steht auf und räumt den Tisch ab. Als er damit fertig ist, sagt er barsch: »Wegen der Trockenheit. Weil es so lange trocken war, hat die Erde um das Fundament des Turms tiefe Risse bekommen. Deshalb schwankt der Turm. Man spürt es kaum. Fast niemand spürt es.«
    »Kann er auch einstürzen?«, murmelt Veronika.
    »Ich glaube nicht«, sagt der Amerikaner. »Aber es bleibt dir unbenommen, zu springen.«
     

8
    In dieser Nacht, es ist die dritte, schläft der Türmer überhaupt nicht. Es brodelt unter der Oberfläche. Aus dem dunklen Spiegel des Teichs blubbern kleine Eruptionen. Gedanken, Empfindungen. Der Türmer liegt auf dem Rücken, genau wie Veronika im Vorraum, als er sie zuletzt sah. Nur dass er seinen Schlaf dringend bräuchte. Sie wird wieder den ganzen Tag lang nichts tun. Sie wird sich in einer Ecke zusammenrollen, sich um gar nichts kümmern und so viele Stunden schlafen, dass sie jetzt nachts wach liegen muss, einfach deswegen, weil sie ausgeschlafen hat.
    Dem Türmer gelingt die stumme Zwiesprache mit seinen Steinmetzgesellen nicht mehr, seit sie hier ist; die flinken Füße des Jungen, seine kleine Figur vor einem der Fenster, sein Davonhuschen stören ihn auf. Jeder Viertelstundenschlag ist wie ein schmerzender kleiner Biss und das liegt nicht an der lauten, vertrauten Uhr.
    Der Türmer steht auf, sowie es hell ist. Er muss sich nicht anziehen, denn seit das Mädchen hier ist, trägt er nachts einen Trainingsanzug. Er schiebt den Schlüsselbund in die Tasche und öffnet die Tür. Er überquert den Vorplatz, ohne extra leise aufzutreten. Veronika rührt sich nicht. Sie schläft jetzt so tief, dass nicht einmal das Glöckchengebimmel sie stören kann. Der Türmer geht hinunter, ohne konkretes Ziel, ohne eine bestimmte Absicht. Dann aber hält er plötzlich vor den Glocken an. Er sperrt das Sicherheitsschloss an der groben Holztür auf und geht hinein. Er berührt die kühlen Rundungen. Wie ein Bauer, der Trost bei seinen Tieren sucht. Der Junge ist auch gern hierhergekommen. Nur war da noch kein Boden unter dem Glockenstuhl.
    Der Türmer will lächeln, als er an den Jungen denkt. Doch das Lächeln misslingt. Denn der Junge strauchelt. Er
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