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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind
Autoren: Reinhard Rohn
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spähte hinaus. Der Junge war verschwunden. Er musste aus dem Dorf gekommen sein. Woher sonst? Keines der wenigen Ferienhäuser in der Umgebung ist zurzeit bewohnt. Später hörte ich einen Hund kläffen, ganz nah, als würde er um das Haus streifen und versuchen, meine Aufmerksamkeit zu erlangen.
    Das Haus hatte ein Geheimnis, wie ein Mensch, der zu lange allein geblieben war. Oder ich war es, der Geräusche hörte, wo keine sind, dem Stimmen durch den Kopf geisterten, weil er noch nie so viel Stille um sich gehabt hatte.
    Noch nie war ich so lange ohne ein Telefon, einen Computer, ein Radio oder einen Fernsehapparat gewesen. Die Wolken hingen hier so tief, als würden sie durch die emporgestreckten Aste der Bäume hindurchgleiten. Das Einzige, das an Menschen erinnerte, war eine einsame Stromleitung, die sich zu den Ferienhäusern zog. Sonst war nur Stille da.
    Ich durchsuchte die Schubladen, um wenigstens ein, zwei Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Aber nach dem Tod meines Vaters war gründlich aufgeräumt worden. Borger, der alte Rechtsanwalt, dessen pflichtbewusster Sohn mich nun den Banken ausgeliefert hatte, war damals hierher herausgefahren und hatte alle wichtigenAufzeichnungen an sich genommen. Mein Vater hatte ihm mehr vertraut als mir. Offenbar misstrauen alle Väter ihren Kindern, glauben nicht daran, dass sie das Geschäft mindestens genauso erfolgreich weiterführen wie sie.
    Ich fand nicht besonders viel. In der obersten Schublade eines alten Sekretärs, des einzigen wertvollen Möbels, mit dem sich mein Vater in dem Haus umgeben hatte, entdeckte ich ein paar vergilbte Kreuzworträtselhefte. Mit diesen Heften hatte er sich in den beiden letzten Jahren die Zeit vertrieben und versucht, sein schon angegriffenes Gehirn zu beschäftigen. Am Ende gab es Tage, an denen sein Verstand so umnebelt war, dass er nicht viel mehr als seinen Namen wusste. Beinahe rührend mutete mich seine krakelige Handschrift an. Er hatte sich um klare Blockbuchstaben bemüht. In der Fabrik hatte er eine andere Handschrift gehabt, mächtige, eckige Buchstaben, die sich so ineinander schoben, dass jeder größte Mühe gehabt hatte, seine kurzen Anweisungen zu entziffern.
    Die Zeit hatte auch meinen Vater im Stich gelassen.
    In der nächsten Schublade fand ich nichts, und ich wollte sie schon schließen, als zwei kleine Fotos nach vorne rutschten. Offenbar war jemand beim Aufräumen doch nicht ganz so sorgfältig vorgegangen.
    Das Erschrecken ließ mich frösteln. Ich nahm das erste Foto und strich mit den Fingern meiner rechten Hand darüber, als gäbe es da etwas, was ich wirklich ertasten könnte. Nie war ich mir in den letzten Jahren alt vorgekommen, nicht einmal im Krankenhaus, als man mir einen Bypass gelegt hatte, doch nun war das Alter wie eine Krankheit, die sich in meine Knochen geschlichen hatte und sie von innen auffraß. Ich sah mich auf dem Foto, so wie man einen Fremden sieht, an den man sich nur ganzallmählich erinnert. Mein braunes Haar war dicht und zerzaust. Ich saß auf einem weißen Motorroller und hatte einen Strohhut in der Hand, den ich zu einem überschwänglichen,, etwas zu theatralischen Gruß hoch hielt, und ich lächelte so jung und selbstsicher, wie ich mich noch nie hatte lächeln sehen. Dabei hatte ich im Lauf der Jahre so viele Fotos und Filme über mich anschauen müssen.
    Das zweite Foto erschreckte mich beinahe noch mehr. Es zeigte meinen Vater. Er musste um die fünfzig sein, er war schon fett, mit einem kräftigen Doppelkinn. Das spärliche Resthaar hatte er mit Pomade zurückgekämmt. Er saß in dem Korbstuhl, auf dem ich in diesem Moment saß, nur dass der Stuhl draußen im Sonnenlicht auf der Terrasse stand. Neben ihm, eine Hand auf seine massige Schulter gestützt, lehnte Ira. Wie eine Elfe sah sie aus in einem weißen, viel zu eleganten Kleid, das ihre Taille betonte. Sie war so schön gewesen, mit ihren dunklen, ausdrucksvollen Augen. Auch dieses Foto hatte ich noch nie gesehen. Zum ersten Mal bedauerte ich, dass ich mich nie um den Nachlass meines Vaters gekümmert hatte.
    Als ich mir die dritte Schublade ansehen wollte, bemerkte ich, dass es draußen dunkel geworden war, und plötzlich hörte ich Stimmen, die allmählich lauter wurden. Kinder, die sich auf der Straße näherten. Sie sangen ein Lied, das ich nicht kannte, und trugen kleine Laternen vor sich her, wie bei einem Sankt-Martinszug.
    Dann, als ich die ersten Worte des Liedes vernommen hatte, tat ich etwas, das ich mir
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