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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind
Autoren: Reinhard Rohn
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über das Wasser zog und manchmal abrupt hineintauchte. Gehören Fischreiher nicht zu den Vögeln, die im Herbst in den Süden ziehen, um sich dort, irgendwo in Afrika, warme, fischreiche Jagdgründe zu suchen? So kam mir der Fischreiher wie ein Leidensgenosse vor. Wir beide waren zurückgeblieben, hatten den Anschluss verloren und uns hieram See verkrochen. Dem Fischreiher schien zu gefallen, dass ich ihm zuschaute. Er kehrte immer wieder zurück, einmal mit einem dicken, noch zappelnden Fisch im Schnabel, und dann flog er einen großen Bogen über mich, so als wollte er mir ein Kunstwerk vorführen, und verschwand in den tief hängenden Wolken.
    Später kochte ich mir einen Kaffee. Wahrscheinlich war es das erste Mal in den letzten zehn Jahren, dass jemand den alten Elektroherd in der winzigen Küche angeschaltet hatte. Ich stand da, starrte in das Wasser und beobachtete, wie unendlich langsam die Wärme der rostigen Herdplatte in den Topf kroch und das Wasser zu sieden begann. Zeit hatte nun eine andere Bedeutung für mich. Ich hatte plötzlich zu viel davon; wie eine öde, karge Landschaft lagen die Stunden des Tages vor mir, und ich wusste nicht, wie ich sie füllen sollte. Ich hatte nicht geahnt, dass ich so viele Dinge verlernt hatte, einfache Dinge wie Bücher lesen, Schallplatten hören, zum Himmel schauen, mit jemandem reden.
    Vielleicht hatte Ira mich deshalb verlassen. Nein, nicht nur deshalb, auch weil ich in den letzten zwei Jahren zu einem Verlierer geworden war. Schon vor drei Jahren begannen die Banker zu murren, es gefiel ihnen nicht mehr, wie ich meine Geschäfte führte. Expansion – ja, unbedingt, aber eine Schokoladenfabrik in Russland, dann eine in Rumänien und eine dritte und vierte in Ungarn?
    Ich schüttete das Kaffeepulver einfach ins kochende Wasser. Nicht einmal, wie man Kaffee kochte, wusste ich noch. Wenigstens war der Kaffee heiß. Zum ersten Mal an diesem Tag wurde mir warm. Ich kletterte auf das Dach und entfernte die alten Holzschindeln an einer Ecke. Es regnete nicht mehr. Schwere Wolken schoben sich amHimmel entlang; sie lagen so tief, dass ich fast glaubte, sie würden unmittelbar über meinem Kopf dahinziehen. Manchmal hielt ich nach dem Fischreiher Ausschau, aber der Himmel war leer. Die Schindeln waren brüchig, und die dahinter liegende Teerpappe war porös geworden. In einem verwitterten Schuppen neben dem Haus, der offenbar dem Gärtner als Werkstatt diente, fand ich einen Eimer mit einer dickflüssigen Bitumenmasse und begann, die Teerpappe damit zu bestreichen, ohne eine Ahnung zu haben, ob es viel nutzen würde. Ich hatte einfach keine Lust, ins Dorf zu gehen und jemanden zu fragen. Die Leute im Dorf behandelten mich höflich, sie richteten kein falsches Wort an mich. Erst wenn ich mich umgedreht hatte und wieder ging, fingen sie an zu reden. Sie hatten auch einen Namen für mich. »Der alte Schokoladen-Graf«, so wurde schon mein Vater genannt.
    Als ich das Dach gestrichen hatte und die Schindeln wieder einsetzen wollte, stand ein Junge vor dem Zaun. Er hatte eine Hand auf das Tor gelegt, als wollte er es öffnen, und blickte zu mir auf. Er rührte sich aber nicht, sagte auch kein Wort.
    »Was willst du?«, fragte ich ihn etwas zu laut, weil mich sein argwöhnischer Blick störte. Vielleicht war es aber auch nur, weil ich mir albern vorkam, wie ich da in einer schmutzigen Arbeitshose, die wahrscheinlich dem Gärtner gehört hatte, auf dem Dach hockte.
    Der Junge sagte noch immer nichts. Seine Augen waren braun und dunkel, und ich glaubte, ein abweisendes, feindliches Funkeln in ihnen zu entdecken.
    »Willst du dir ein paar Süßigkeiten erbetteln?«, rief ich ihm nicht besonders freundlich zu. »Ich habe nichts für dich. Nicht einmal Schokolade.«
    Der Junge bewegte sich nicht; wie ein schlechter, eigensinniger Schüler, der es gewöhnt war, dass der Lehrer ihn tadelte, stand er da. Er mochte neun oder zehn Jahre alt sein, wenn ich mich nicht vollkommen verschätzte. Plötzlich fiel mir auf, wie unangemessen er gekleidet war. Er trug ein weißes, ärmelloses Hemd, auf das eine untergehende Sonne aufgedruckt war, und eine kurze rote Hose. Sein Haar war nass, als hätte er eben noch im See gebadet.
    »Geh nach Hause!«, rief ich. »Du wirst dich erkälten.« Doch er rührte sich nicht. Er stand da, mit der Hand auf dem Tor, und schaute zu mir herauf, als wäre er in eine Art Trance gefallen.
    Ich tauchte den Pinsel in die Bitumenmasse. Ich mochte es nicht, wenn man
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