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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind
Autoren: Reinhard Rohn
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auf und ab, dass ich schon glaubte, er würde beim nächsten Schritt das Gleichgewicht verlieren und stürzen.
    Den halben Tag verbrachte ich in meiner engen Küche hinter der Gardine. Ich hielt das Tor im Blick, wollte wissen, ob der Junge wieder auftauchte. Diesmal würde ich ihn zur Rede stellen und eigenhändig zu seiner Mutter zurückbringen. Doch nichts geschah. Nur dann und wann wehten ein paar Geräusche von der Hauptstraße hinüber -wenn ein Lastwagen ins Dorf fuhr oder ein Motorrad schnell die Straße hinunterrauschte. Sogar ein Motorflugzeug fern am düsteren Wolkenhimmel war klar und deutlich zu hören.
    Der Junge tauchte nicht auf; wahrscheinlich lag er miteiner heftigen Grippe im Bett, weil er Anfang Dezember noch Hochsommer gespielt hatte.
    Als ich mich schon abwenden wollte, um mir auf dem Herd einen Kaffee zu kochen, bog ein Mann auf einem Motorrad in die Straße ein. Er hielt auf das Haus zu und kam vor dem Tor zum Stehen. Unsicher schaute er sich um, als erwartete er, dass im nächsten Moment ein zähnefletschender Wachhund heranstürmen würde. Dann, als nichts passierte, rief er ein lautes und hilfloses »Hallo«.
    Der Mann war offenkundig der Postbote des Ortes. Er hatte eine große gelbe Tasche auf seinem Gepäckträger und hielt einen Brief in der Hand.
    Ich rührte mich nicht, sondern beobachtete ihn mit angehaltenem Atem.
    Ira, dachte ich mit einem Gefühl der Freude und Beklommenheit. Sie hat mich doch noch nicht ganz abgeschrieben. Dann verordnete ich mir einen anderen, nüchternen Gedanken. Irgendjemand musste mich hier aufgespürt haben oder aber hatte auf gut Glück einen Brief an diese ländliche Adresse abgeschickt.
    Der Postbote schien seine Pflichten ernst zu nehmen. Er legte die Hand auf das Tor und zog den Metallbügel hoch. Dann trat er ein. Natürlich wusste er, dass ich hier wohnte. In diesem Dorf konnte nichts geheim bleiben.
    Ich wägte ab, was ich tun sollte: mich verstecken, mich tot stellen? Nein, ich entschied mich, ihm entgegenzugehen. Ein Blick in den winzigen Rasierspiegel im Bad, den einzigen Spiegel, den mein Vater im Haus geduldet hatte, verriet mir, dass ich einen müden, heruntergekommenen Eindruck machte. Schwarze Bartstoppeln, auf denen schon ein silberner Schimmer lag, bedeckten mein Gesicht. Die Falten um meine Augen und meinen Mund warennoch tiefer geworden. Ich sah aus, als hätte ich bei schmaler Kost schon ein paar Wochen auf einer einsamen Insel gelebt.
    Der Postbote wich zurück, als ich aus der Tür trat. Er war viel jünger, als es aus der Entfernung gewirkt hatte, höchstens funfunddreißig. Hellblaue Augen schauten mich an.
    »Herr Graf«, sagte er zögernd und unsicher. »Ich habe ein Einschreiben für Sie.«
    Ich nickte und bereute sofort meine Entscheidung, mich aus meinem Versteck begeben zu haben.
    Der Brief kam vom jungen Borger, meinem Anwalt. Ich konnte es förmlich riechen. Er roch nach seiner piekfeinen Kanzlei, nach Nagellack und der teuren Tinte, mit der er seine Briefe unterschrieb. Borger würde vermutlich ein Treffen vorschlagen, damit ich mit ihm und dem Konkursverwalter die Lage besprechen konnte. Dabei gab es nichts mehr zu besprechen. Der Konkursverwalter musste einen Käufer für die Fabriken finden und meine Schulden bezahlen, so gut es ging. Für Ira und mich würde ohnehin nichts übrig bleiben. Das große Haus, die Bilder, die Autos – alles würde zum Teufel gehen.
    Der Postbote legte mir den Brief in meine offene, ausgestreckte Hand. Ich bemerkte erstaunt, wie schmutzig sie war: die Hand eines Fischers oder Bauarbeiters.
    Der Mann lächelte; vielleicht weil er meine schmutzige Hand auch bemerkt hatte.
    »Bleiben Sie eine Weile bei uns?«, fragte er dann leise, während er sich schon halb abwandte. »Wr treffen uns am Sonntag nach der Kirche immer im alten Hotel.« Er tippte sich zum Abschied an die Stirn und verschwand.
    Im alten Hotel am Sonntag? War damit die Hotelpensionan der Kirche gemeint? Die Dorfbewohner hatten eine merkwürdige Art, ihre Einladungen auszusprechen.
    Ich öffnete den Brief nicht, sondern legte ihn auf den Sekretär meines Vaters, als müsse er sich darum kümmern, als ginge mich Borgers Schreiben nichts an.
    Später stand ich wieder am Fenster. Der Himmel verdüsterte sich. Immer dunklere, schwerere Wolken zogen am Himmel entlang und spiegelten sich auf dem Wasser. Niemand war auf dem Deich zu sehen. Ich ging in Richtung Dorf, vorbei an einem öden, verwaisten Campingplatz, aber als ich die ersten
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