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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind
Autoren: Reinhard Rohn
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denen sie nie den Namen »Martin« aussprach und doch jeden Tag an unseren Sohn dachte. Nie hatte ich sie dabei beobachtet, wie sie ein Foto von ihm in der Hand hielt oder sich in seinem Zimmer einschloss, das unverändert in unserem Haus existierte. Sie hatte den Zaun abreißen lassen, aber sonst so getan, als müsste das Leben weitergehen. Manchmal waren wir zusammen auf dem Friedhof gewesen. Nie war uns am Grab etwas anderes eingefallen als zu schweigen. Ira beherrschte ein weiches, zweifelndes Schweigen, das sie mit niemandem teilte. Ich fühlte mich mit diesem Schweigennie wohl, konnte es kaum ertragen. Man verlor sich darin wie in einer nebligen Landschaft, trieb von allen Wegen und Orientierungsmarken fort. Es rief seltsame Gedanken und sinnlose Sätze wie: »Lass uns ein anderes Leben führen!«, in mir wach – als hätte ich mich aus meiner Verantwortung für die Fabriken davonstehlen können.
    Mit dem ersten Licht ging ich ins Dorf. Ich sah ein paar Kinder an einer Bushaltestelle. Der Junge von meinem Tor war nicht darunter. Die beiden einzigen Lokale, die es hier gibt, hatten noch nicht geöffnet. Daher ging ich in die Hotelpension, die genau gegenüber der Kirche und dem kleinen Friedhof liegt, und ließ mir ein großes Frühstück servieren, obwohl ich gar keinen Hunger hatte.

7. Dezember
    Es gab viele Dinge, die ich niemals getan hatte und nun lernen musste. Geld an einem Bankautomaten abzuheben gehörte dazu; einen Einkaufszettel schreiben oder mit einem Dosenöffner umgehen, ohne mich zu verletzten, oder zu wissen, wie man Sicherungen auswechselt. Und wie man mit Kindern redete. Kinder kannte ich in den letzten Jahren nur noch von den Fotoaufnahmen, wenn wir eine neue Werbekampagne starteten.
    Den ganzen Vormittag schlich ich durch das Dorf und wartete, dass der erste Schulbus zurückkehrte. Im Dorf gab es keine Schule mehr. Morgens gegen halb acht, wenn es noch stockdunkel ist, fanden sich ungefähr zwanzig Kinder an der Haltestelle ein. Gegen zwölf brachte der Bus die ersten Kinder zurück.
    Ich setzte mich in das kleine Wartehäuschen und blickte auf die Straße hinaus, wie ein Wanderer, der zu müde war, um noch weiterzugehen. Als der Bus auftauchte, spürte ich, wie mein Herzschlag sich beschleunigte. Seltsamerweise war ich aufgeregt.
    Lärmend sprangen die Kinder aus dem Bus. Sie waren winzige, bunt gekleidete Zwerge, acht oder neun Jahre, so alt, wie Martin gewesen war, als er sterben musste, und sie beachteten mich gar nicht, so sehr waren sie mit sich selbst beschäftigt. Ich traute mich nicht, einen von ihnen anzusprechen. Plötzlich kam mir mein Anliegen höchst albern vor. Zum Glück hatte mich kein Erwachsener gesehen. Wahrscheinlich hätte ich mich gleich verdächtig gemacht: der böse Onkel, der unschuldige Kinder mit Schokolade verfuhren wollte.
    Dann, als der Bus schon wieder anfahren wollte, hüpfte ein Nachzügler aus der hinteren Tür, ein blasses blondes Bürschchen in einem türkisfarbenen Anorak.
    Der Junge verharrte, kaum dass er mich bemerkt hatte. Seine Schwäche machte mir Mut.
    »Komm mal her«, sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen, als wäre er ein schwächliches Reh, das ich heranlocken wollte, um es zu füttern.
    Der Junge machte einen Schritt, ohne den Blick von mir zu wenden.
    »Ich heiße Ludwig«, sagte ich. »Und wie heißt du?«
    Er antwortete nicht gleich, sondern schluckte nur. Sein winziger Kehlkopf hüpfte auf und ab. »Eugen«, sagte er dann mit leiser, piepsiger Stimme.
    Beinahe hätte ich gelacht. Eugen – was für ein seltsamer Name. Sogar ich wusste, dass Jungen heutzutage Christian, Marcel oder Kevin hießen.
    »Willst du mir helfen, Eugen?«, fragte ich weiter.
    Er nickte und machte einen weiteren, vorsichtigen Schritt.
    »Ich habe nur eine Frage an dich. Kennst du einen Jungen? Er ist blond wie du und ein wenig verrückt. Er geht selbst bei diesem Wetter im See schwimmen und läuft in einem Hemd herum, auf das eine Sonne gedruckt ist.«
    Einen Moment glaubte ich einen sanften Schrecken in seinen Augen gesehen zu haben, aber vielleicht hatte ihn auch nur das Auto erschreckt, das auf der Dorfstraße vorbeifuhr.
    Eugen schüttelte heftig den Kopf. »Mark hat einmal so ein Hemd getragen«, sagte er und senkte den Blick.
    »Und wo wohnt Mark?«, fragte ich.
    Der Junge schien mich nicht mehr anschauen zu wollen. »Keine Ahnung«, sagte er, dann drehte er sich herum und lief die Straße hinunter. Die Schultasche auf seinem Rücken wippte so heftig
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