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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind
Autoren: Reinhard Rohn
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hinterher gar nicht erklären konnte. Beinahe panisch löschte ich die Lampe auf dem Sekretär. Dann schlich ich im Dunkeln die steile Treppe in den Schlafraum im ersten Stock hinauf.
    Ich sah nicht viel, ein paar kleinere und größere Schatten,die, beleuchtet von Laternen aus Papier, auf der schmalen Asphaltstraße dahinglitten. Den Jungen vom Gartentpr konnte ich unter ihnen nicht erkennen.

6. Dezember
    Eines der Geheimnisse, die das Haus hütet, wurde heute Nacht gelüftet. Ich konnte nicht schlafen. Mein Körper ächzte und quälte sich auf eine Art, die ich nicht gewöhnt bin. Früher schlief ich sogar vor den schwierigsten Entscheidungen immer gut, so gut, dass sich Ira häufig wunderte. Später richtete sie sich ihr eigenes Schlafzimmer ein, angeblich weil ich begonnen hatte zu schnarchen. Wahrscheinlich konnte sie meine Nähe nicht mehr ertragen, oder sie hatte Angst, ich könnte verstehen, was sie gelegentlich im Schlaf vor sich hinmurmelte.
    Es gibt Stimmen im Haus. Sie geisterten durch die Nacht. Manche der Stimmen gehörten mir selbst, wie ich mit Ira gesprochen hatte, wie ich meiner Sekretärin Anweisungen gab, wie ich vor den Einkäufern großer Supermärkte eine Rede hielt. Ich vernahm sogar meine Stimme aus der kurzen Zeit, als ich in unseren eigenen Werbespots aufgetreten war, um meine Erfindung, die exquisite weiße Krokantschokolade, anzupreisen. Andere Stimmen erkannte ich nicht oder wollte sie nicht erkennen. Es war, als befände ich mich in einem leeren dunklen Saal, und irgendwo aus dem endlosen Universum sendete jemand Teile meines Lebens zu mir herunter.
    Ich stand auf und schaltete sämtliche Lichter im Haus an, wie ein Kind, das sich im Dunkeln fürchtete. Wie hattemein Vater es allein in diesem Haus ausgehalten? Ein-, zweimal hatte ich ihn hier besucht, nachdem er sich aus dem Geschäft zurückgezogen hatte, und immer hatte er einen ruhigen, ausgeglichenen Eindruck gemacht, als würde ihm die Einsamkeit nichts ausmachen. Ich zog mich an und lief wieder zum See. Es war kalt und roch nach Regen. Kein Stern war am Himmel zu sehen. Lediglich mein eigenes Licht aus dem Haus leuchtete in der Dunkelheit zu mir herüber.
    War es wahr, dass wir nur in unserer höchsten Not einen anderen Menschen überhaupt verstehen konnten? Seine Ängste, seine Einsamkeit?
    Ira hatte sich oft beklagt, dass ich zu viel in der Fabrik sei, dass ich zu viele teure Bilder von Malern kaufte, die es nie zu etwas bringen würden, zu viele Pläne machte, in denen sie keine Rolle spielte. Und alles nur, um mir und der Welt zu beweisen, dass ich ein besserer Geschäftsmann war als mein Vater.
    Ich hatte ihre Einsamkeit nie verstanden und auch nie bemerkt, dass ich das Alleinsein nicht aushielt, nicht einmal mit ihr.
    Der See machte keinerlei Geräusch. Wie ein schwarzer Spiegel lag er da. Oder als wäre er aus blankem düsterem Stahl.
    Vor einem Jahr, als ich noch glaubte, Herr über zehn Fabriken und zweitausend Angestellte zu sein, hätte mich der Anblick dieses Sees auf ganz andere Gedanken gebracht. Wie könnte man solch einen See zu einer Attraktion machen? Wie wäre es mit einem großen Feuerwerk am Weihnachtsabend? Zum Abschluss würde groß und leuchtend unser Firmenzeichen in den Himmel gebrannt werden. Oder wie wäre es mit einem gigantischen Orgelkonzertmitten auf dem See, das von riesigen Lautsprechern an alle Ufer übertragen wurde?
    Ira hatte mich zweimal verlassen. Drei Tage bevor ich den Konkurs eingestehen und mich den Banken ausliefern musste, hatte sie ihre Sachen gepackt und gesagt, dass sie es nicht mehr aushielte – mein Schweigen, meine Wutausbrüche und die Dunkelheit, die ich verbreitete, so jedenfalls hatte sie es ausgedrückt. Das Haus auf Gomera gehörte ihr. Sie sprach spanisch, hatte viele Freunde auf der Insel. Als hätte sie schon seit langer Zeit geahnt, dass unser Leben in einer Katastrophe enden würde, hatte sie sich ein Refugium auf den Kanaren geschaffen, in dem ich nichts verloren hatte.
    Zum ersten Mal aber hatte sie mich vor achtzehn Jahren verlassen, an dem Tag, als unser Junge starb. Sie hatte gesehen, wie er verblutet war. An dem Zaun vor unserem Haus hatte er sich aufgespießt. Es war ein Spiel unter achtjährigen Kindern gewesen. Wer konnte am schnellsten über den Zaun klettern? Achtzehn Jahre lang hatte ich sie nicht anrühren dürfen. Ein Kuss auf die Wange vielleicht, mehr nicht. Ihr war es gleichgültig, wenn ich mir mein Vergnügen woanders holte. Achtzehn Jahre, in
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