Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind
Autoren: Reinhard Rohn
Vom Netzwerk:
Dann verlor sich das wenige Licht, das von den Wiesen reflektierte. Ein schmale Brücke lag vor mir; eine Art Wehr, wie man sie hier an den größeren Bewässerungskanälen fand. Sie dienten dazu, den Wasserstand des Sees zu regulieren.
    »Hier!« Die Stimme klang lauter und dringlicher. Sie gehörte eindeutig Mark.
    Der schmale Weg auf dem Wehr war so glatt, dass ich beinahe gestürzt wäre. Im letzten Augenblick konnte ich mich an einem Holzpfosten festhalten. Ich beugte mich über die niedrige Brüstung und stöhnte auf vor Schmerzen und Glück. Da unten in der Dunkelheit, auf dem zugefrorenen Kanal lag Mark und blickte zu mir auf. Er hielt eine Taschenlampe in der Hand, in der aber kaum mehr als ein heller Funken glomm. Seinen Schlafsack hatte er gegen die Kälte halb über sich ausgebreitet und unter sein linkes, offensichtlich verletztes Bein geschoben. Mark lächelte mich an, bleich und klein und am Ende seiner Kraft.
    »Gott sei Dank«, sagte er mit schluchzender Stimme. »Gott sei Dank, dass endlich jemand kommt.«
    Neben ihm entdeckte ich eine angebrochene Schachtel Kekse und meine matt glänzende Pistole.
    Außer mir vor Erleichterung tat ich etwas ganz und gar Lächerliches. »Hallo, Mark«, sagte ich ganz sanft und förmlich, »herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« Die Kälte und der Schmerz in meinem Knie waren nun vollkommen nebensächlich geworden.
    Dann rutschte ich vorsichtig zu ihm die Böschung hinunter, und Mark streckte mir seine Hände entgegen.

EPILOG
24. Dezember
    Ich hatte es mir in den letzten drei Tagen zur Gewohnheit gemacht, am Morgen zum See zu gehen, um zu beobachten, wie die Sonne aufging. Es war wärmer geworden, wie meistens um die Weihnachtszeit herum. Der See begann zu tauen. An einigen Stellen war die Eisdecke bereits aufgebrochen. Licht würde es nicht mehr allzu schwer haben, ein paar Fische zu fangen, die sich unter dem Eis allzu sicher fühlten. Manchmal meinte ich, ihn in der Ferne zu entdecken, aber vielleicht täuschte ich mich auch. Am Haus hatte er sich nicht mehr blicken lassen; vielleicht hatte er Angst, noch einmal in Gefangenschaft geraten zu können, oder ihn störte der Geruch von Asche und verbranntem Holz.
    Das Haus war unbewohnbar geworden. Ich würde es abreißen lassen müssen.
    Da in der Hotelpension kein Zimmer mehr frei war, weil sich überraschend Gäste über die Weihnachtstage angemeldet hatten, hat Hedda mich aufgenommen.
    Nachdem ich den Jungen gefunden hatte, dauerte es noch über eine halbe Stunde, bis sie und zwei Sanitäter in einem Krankenwagen ankamen. Ich nahm Mark in die Arme,um ihn zu wärmen. Als wären wir zwei Indianer, die auf das Morgengrauen warteten, breitete ich den Schlafsack aus und legte ihn über uns. Der Junge schob sich ganz dicht an mich heran. Jeder Hauch von Wärme tat ihm gut. In den ersten Minuten sagte er kein Wort.
    »Ich habe furchtbare Angst gehabt«, sagte er, ohne mich anzuschauen. »Die Dunkelheit ist nichts für mich, aber seit mein Vater tot ist, habe ich eigentlich immer Angst. Ich habe sogar vor mir selbst Angst, vor dem, was ich tue.«
    »Es war keine besonders gute Idee, den Schuppen anzustecken«, erwiderte ich vorsichtig, »noch schlimmer war es allerdings, einfach wegzulaufen.«
    Mark nickte und drückte sein Gesicht gegen meine Schulter. »Aber jede Nacht habe ich im Traum das Haus gesehen. Ich konnte nichts dagegen tun. Mein Vater stand davor und winkte, dann ging er hinein, und es brannte ab, ohne dass er wieder herauskam.«
    Als wir die Sirenen hörten, steckte ich die Pistole ein und schaute den Jungen forschend an. »Wir treffen eine Abmachung«, sagte ich. »Du erwähnst mit keinem Wort, dass ich eine Pistole bei mir hatte, und ich werde niemals davon sprechen, dass du mein Haus angesteckt hast. Abgemacht?«
    Der Junge nickte wieder; in seinen dunklen Augen funkelten eine sanfte Zuversicht und ein Erkennen, als wüsste er genau, was ich mit unserer Abmachung meinte, dann reichten wir uns förmlich die Hand.
    Taschenlampen flackerten auf und warfen grelle Lichtbahnen durch die Nacht. Hedda eilte heran, schlitterte die Böschung herunter, gefolgt von zwei Sanitätern, die eine Trage bei sich hatten. Sie war so aufgeregt, dass sie kaum einen Satz herausbrachte. Immer wieder stammelte sieMarks Namen und strich ihm über das Gesicht. Die beiden Sanitäter hoben ihn auf ihre Trage, und dann fuhren wir ins Krankenhaus in die Kreisstadt.
    Die Diagnose war nicht Besorgnis erregend. Mark hatte sich beim
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher