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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind
Autoren: Reinhard Rohn
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Michael noch am Leben war, hat er sich gar nicht so viel aus seinem Vater gemacht. Sie haben gesegelt und sind schwimmen gegangen, aber meistens hat Michael sich von Mark gestört gefühlt. Das Schreiben war Michael viel wichtiger, als sich um seinen Sohn zu kümmern.«
    Ich hatte keine Antwort. Stattdessen nahm ich ihre Hand, die sich klein und kalt in meine grub.
    Als wir den Deich erreicht hatten, war von dem Feuer am Haus nichts mehr zu sehen. Lediglich die Wand aus Nebel wirkte, durchsetzt mit schwarzen Schlieren, noch undurchdringlicher und trostloser. Dann und wann schallten ein paar Kommandos und das Krachen von Holz herüber. Eines hatte der Junge nun geschafft. Ich hatte keine Unterkunft mehr, keinen Ort, an dem ich bleiben konnte. Noch nie in meinem Leben war es mir so ergangen.
    »Hat Mark einen Lieblingsort am See, ein Versteck, wo wir ihn finden könnten?«
    Hedda schüttelte den Kopf. »Er war oft am Steg und ist dort schwimmen gegangen. Mitunter hat er sich auch das Boot genommen, obwohl ich es ihm verboten hatte.«
    Grau und leblos lag der See vor uns. Man konnte bestenfalls fünfzig Meter weit auf die Eisfläche hinausblicken. Das ideale Wetter, um sich davonzumachen und aus seinem alten Leben zu verschwinden. Ein Erwachsener konnte es an einem solchen Tag leicht bis nach Amerikaschaffen, ohne dass ihn jemand aufspürte. Wenn Mark es richtig angestellt hatte, wäre er schon auf dem Weg an die Küste, nach Hamburg oder sonst wohin, jedenfalls nicht mehr in der Gegend. Hielt er sich jedoch noch am See auf, würde er einen geeigneten Schlafplatz für die Nacht brauchen, eine Schutzhütte oder eine abgelegene Scheune. Es würde wieder bitterkalt werden. Möglicherweise hatte der Junge sich sogar auf sein dummes Abenteuer vorbereitet und längst einen Schlafsack, Decken und etwas zu essen an einen geheimen Ort auf die andere, vollkommen einsame Seite des Sees geschafft. In spätestens zwei Stunden würde es stockdunkel sein. Dann hätte allenfalls eine Hundertschaft der Polizei die hauchdünne Chance, ihn noch zu finden.
    Ich wollte Hedda nicht beunruhigen. »Zuerst musst du am Steg nachschauen, ob du ihn da findest, und dann gehst du nach Hause. Wir müssen wissen, was Mark mitgenommen hat. Ist er spontan losgezogen, oder hat er alles geplant und einen Rucksack mit seinen Sachen gepackt? Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als sofort die Polizei einzuschalten.«
    Hedda nickte wieder, diesmal überzeugter und entschlossener; anscheinend war es mir tatsachlich gelungen, ihr ein paar Tropfen Zuversicht einzuflößen. »Und was wirst du machen?«, fragte sie.
    »Ich gehe um den See«, sagte ich. »Wenn du zu Hause etwas herausgefunden hast, rufst du mich an. Heute Abend ist Mark wieder da.« Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen eigenen Worten glaubte, zumindest verfehlten sie ihre Wirkung nicht. Hedda lächelte; ihr Haar war zerzaust, ihre Augen waren noch immer ernst und dunkel; trotzdem hatte ich sie noch nie so schön gesehen.
    Sie küsste mich auf die Wange. »Danke«, flüsterte sie, dann trennten wir uns, und sie eilte ins Dorf, ohne sich noch einmal umzudrehen. Nach einer halben Minute war sie im Nebel verschwunden.
    Ich machte ein paar Schritte auf das Eis hinaus. Es knackte und knirschte unter meinen Füßen. Waren die Temperaturen heute wieder einmal über den Nullpunkt gestiegen? Ich hatte wenig Erfahrung, aber ich glaubte, das Eis hatte zu tauen begonnen. Ein Gang über den See konnte lebensgefährlich werden, wenn man an die falschen Stellen geriet; abgesehen davon, dass man sich heillos verirren konnte.
    Wieder hörte ich ein paar laute Kommandos der Feuerwehrleute, dann einen Laut, als würden Holzbretter aufeinander geworfen werden. Holtys Leute leisteten ganze Arbeit, sie begannen bereits mit den Aufräumungsarbeiten oder suchten nach einzelnen, kleineren Brandnestern. Ich schritt den Deich hinunter. Außer den gelegentlichen Kommandos waren lediglich einige Enten zu hören. Der See schwieg, ein geheimnisvolles, hartnäckiges Schweigen.
    Eine halbe Stunde ging ich so, lauschte in alle Richtungen, und manchmal rief ich auch Marks Namen, nicht weil ich etwas gehört hatte, sondern beinahe wie ein verirrtes Kind, aus einem Gefühl der Verzweiflung und Ratlosigkeit heraus. Achtzehn Kilometer maß der Weg um den See; auf der anderen Seite, der ich mich langsam näherte, gab es nur karge Felder, winterliche Wiesen und zugefrorene Abwasserkanäle. Unmöglich, dort bei Nebel oder Dunkelheit
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