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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind
Autoren: Reinhard Rohn
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jemanden zu finden. Ich sollte umkehren, sollte Hedda Gesellschaft leisten, die Polizei alarmieren und meinem Knie die Ruhe gönnen, die es nach den Strapazen des Tages dringend benötigte. Eine Nacht in der Kältewürde Mark wahrscheinlich nicht umbringen, jedenfalls nicht, wenn er sich gründlich genug auf seinen Ausreißversuch vorbereitet hatte. Außerdem könnte er sich auch ein Versteck auf dem Orgelboden oder in einer anderen Ecke des Dorfes gesucht haben, um uns wieder einmal zum Narren zu halten.
    Mein Telefon klingelte. Hedda meldete sich atemlos. »Mark hat seinen Schlafsack mitgenommen, und eine Sommerhose und ein Pullover fehlen auch.«
    »Nicht mehr?«
    »Ich glaube nicht«, erwiderte Hedda. Sie hatte die Unruhe in meiner Stimme bemerkt. Mit einem Schlafsack, einem Pullover und einer Sommerhose würde Mark eine ungemütliche Nacht erleben. »Du wirst ihn doch finden, nicht wahr?«, fragte sie.
    »Sicher«, sagte ich wie ein geübter Lügner. »Er kann ja nicht weit sein.« Wir verabredeten, dass sie alle Freunde Marks abtelefonieren sollte und mich dann wieder anrufen würde.
    Die Dunkelheit zog herauf. Es sah aus, als würde von Osten ein riesiges Schattenwesen durch den Nebel auf mich zu schleichen. In einer halben Stunde würde ich die Hand vor Augen nicht mehr sehen können, und ich hatte nichts bei mir, keine Taschenlampe, keine Fackel, nicht einmal ein winziges Feuerzeug. Aber der Junge hatte etwas: meine Pistole. Ich versuchte, in seinen Kopf zu kriechen. Warum hatte er die Pistole mitgenommen, aus Zufall, weil er sie eben gefunden hatte und eine Waffe zu einem Abenteuer gehören mochte? Oder hatte er mit der Waffe etwas vor? Bei dem Gedanken jedoch, was genau er mit der Pistole anstellen mochte, versagte meine Vorstellungskraft. Mein Leben wäre hier und jetzt zu Ende, wennich einen lauten Schuss durch den Nebel hörte und wüsste, der Junge hätte die Waffe gegen sich gerichtet. Dann bliebe mir nur noch, ihm die Pistole abzunehmen und sie gleichfalls gegen mich zu richten. Hedda würde ich nie wieder unter die Augen treten können.
    Ich musste mich für einen Moment in das gefrorene Gras setzen, um mich auszuruhen, so furchtbar war mir dieser Gedanke. Nein, sagte ich mir dann, alles wird gut. Der Junge hat sich in seiner Trauer verrannt, er hat mich vertreiben wollen, weil ich das Haus seines Vaters in Beschlag genommen habe und weil ich seiner Mutter zu nahe gekommen bin. Er hat die Pistole nur gegen seine Angst eingesteckt, er wird sich nichts antun.
    Seltsam, dass ich vor gut drei Wochen wie ein Flüchtender an den See gekommen war, um mich zu töten, und nun meiner Pistole hinterher) agte. Eine der vielen ironischen Wendungen meines Aufenthaltes hier.
    Nach einer halben Stunde rief Hedda wieder an. Ich hatte mich nicht vom Fleck gerührt. Die Kälte war mir in die Glieder gekrochen, aber ich spürte sie kaum.
    »Ich habe fast alle seine Klassenkameraden angerufen«, sagte Hedda. Sie klang nun bedeutend ruhiger, weil sie eine Aufgabe und Dinge zu erledigen hatte. »Niemand weiß etwas von Mark. Er muss da draußen irgendwo sein. Hast du eine Spur von ihm gefunden?«
    Ich hätte beinahe losgelacht. Ich hatte nichts, keinen einzigen Anhaltspunkt, wohin ich mich wenden sollte. »Ja«, hörte ich mich sagen und blickte auf den schwarzen See hinaus, »ich glaube, ich habe Fußspuren gefunden. Ich melde mich gleich zurück.« Auch wenn ich nichts lieber gehört hätte als Heddas Stimme, unterbrach ich die Verbindung.
    Als ich mich mühsam aufrichtete, war die Dunkelheit wie eine Welle über mir zusammengeschlagen. Lediglich der alte, hart gewordene Schnee auf den Feldern reflektierte das wenige Licht, so dass ich mich noch einigermaßen orientieren konnte.
    Alles war ein Irrtum, dachte ich plötzlich, dass mein Weg mich nach dreiundfünfzig Jahren hierher geführt hatte – in eine einsame Nacht. Ich hatte kein Haus und keine Frau und keine Fabrik mehr. Eigentlich müsste ich jetzt aufwachen und feststellen, dass sich da in ein paar meiner Gehirnwindungen ein Trugbild eingeschlichen und mir ein anderes, düsteres Leben vorgeführt hatte. Nein, fiel mir ein, das war kein Trugbild; nie hatte ich mich in den letzten Jahren so lebendig gefühlt wie in den vergangenen Tagen am See. Lag darin das Geheimnis? War mein Vater deshalb hierher zurückgekehrt, um sich vor seinem unausweichlichen Tod noch einmal lebendig zu fühlen?
    Ich würde keine Antwort auf diese Frage finden, zumindest keine, die ich mir
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