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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind
Autoren: Reinhard Rohn
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mich so belauerte, wenn mich jemand so anstarrte, als würde er nur daraufwarten, dass ich einen Fehler machte. Ich kannte diesen Blick noch von meinem Vater. Mit seinem düsteren, argwöhnischen Blick war ich aufgewachsen.
    Als ich mich wieder umwandte und meine Hände hob, um eine Geste zu machen, als wollte ich einen herumstreunenden Hund verscheuchen, war der Junge verschwunden. Lautlos musste er davongelaufen sein, oder er war ein Geist gewesen und gar nicht wirklich da.

5. Dezember
    An meinem Entschluss hat sich nichts geändert. Am 24. Dezember werde ich meinem sinnlosen Leben ein Ende setzen.
    Ich hatte es tatsächlich geschafft, das Dach zu reparieren.Der Regen, der nur hin und wieder für ein paar Stunden aufhörte, konnte mir nichts mehr anhaben. Seitdem es nachts nicht mehr tropfte, schlief ich auch besser, obwohl mir meine Träume wenig Erleichterung brachten. Im Traum war Ira zu mir zurückgekehrt. Sie war viel jünger, nicht fünfzig, sondern höchstens Anfang dreißig, und sie schob voller Stolz einen breiten, glänzenden Kinderwagen. Zwei Kinder lagen in dem Wagen, Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen, vielleicht sechs, sieben Monate alt. Die Kinder schliefen selig, als gäbe es nichts auf der Welt, wovor man Angst haben müsste. Ira war nur zurückgekommen, um mir zu zeigen, dass sie von einem anderen Mann zwei Kinder bekommen hatte.
    Gestern hatte ich einmal den See umrundet. Ich kaufte mir in dem einzigen Geschäft im Dorf, in dem man beinahe alles bekommen kann, einen hässlichen gelben Regenmantel mit Kapuze und zog los. Achtzehn Kilometer misst der Weg, und ich begegnete niemandem. Einmal sah ich einen Schäfer aus der Ferne, der mit seiner Herde über eine Wiese zog. Auch auf dem See regte sich nichts. Die Feriengäste, die es hier im Sommer gibt, zeigten sich um diese Jahreszeit nicht. Nur eine Gestalt in einem Ruderboot war auf dem See zu sehen. Offensichtlich ein Forscher, der Wasserproben entnahm. Wiederholt konnte ich beobachten, wie die Gestalt sich über das schmale Boot beugte und ihre rechte Hand ins Wasser tauchte. Vielleicht war es aber auch nur jemand, der den Fischen nachschaute.
    Als ich die Hälfte des Weges geschafft hatte und in einer kleinen Schutzhütte Rast machte, sah ich den Fischreiher wieder. Beinahe träumerisch und wie schwerelos glitt er am Himmel dahin, um dann plötzlich auf das Wasser herabzuschießen.Ihm schien zu gefallen, dass zu dieser Zeit im Jahr niemand seine Kreise störte. Er war der Herrscher des Sees, und ich war nichts als ein Eindringling. Ich kannte mich hier nicht aus, kannte die Pflanzen und Tiere nicht, auch wenn in jeder Schutzhütte Hinweisschilder hängten, die mit der Flora und Fauna vertraut machen sollten.
    Auf den letzten Kilometern begann der Regen wieder. Doch diesmal störte er mich nicht. Meine Brille beschlug, die Schritte wurden mir schwer, weil ich in den letzten zehn Jahren, von ein, zwei längeren Bergtouren abgesehen, niemals so lange gewandert war. Trotzdem fühlte ich mich großartig. Ich hatte das Gefühl, dass mein Körper arbeitete, dass alle meine Organe versuchten, eine Höchstleistung zu erbringen. Als ich das Dorf hinter mir gelassen hatte und das Haus sah, hatte ich sogar für einen Moment das Gefühl, irgendwo anzukommen. Ich ging unter die primitive Dusche, die sich unter dem Dachvorsprung neben dem Haus befindet. In diesem Moment verstand ich meinen Vater, warum er dieses Haus, das eigentlich nicht mehr als eine Ferienhütte ist, nie hatte umbauen und modernisieren lassen. Es erinnerte ihn vielleicht an seine Kindheit, daran, dass es noch etwas anderes gab als Schokoladenfabriken, Abteilungsleitersitzungen, Verkaufskonferenzen.
    Als ich nur mit einem Handtuch bekleidet die wenigen Schritte zum Haus ging, war der Junge wieder da. Es sah aus, als hätte er sich gar nicht wegbewegt: dasselbe Hemd, dieselbe Hose, derselbe dunkle, forschende Blick, der mich gleich wieder wütend machte. Nur dass er diesmal ein großes Handtuch über der Schulter trug.
    »Was willst du?«, rief ich. »Verschwinde!« Vielleichtschämte ich mich auch, weil ich nackt vor ihm stand: ein müder Mann mit grauer, faltiger Brust, der sich vor aller Welt versteckte.
    Erst als ich im Bett lag und spürte, wie die Wärme in meinen Körper zurückkehrte, dachte ich daran, dass ich besser der Mutter des Jungen hätte Vorwürfe machen sollen. Wer lässt einen Jungen zu dieser Jahreszeit in einem solchen Aufzug herumlaufen?
    Ich schlich zum Fenster und
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