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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind
Autoren: Reinhard Rohn
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ein stummes, überraschtes »Oh«, dann eilte sie weiter zum Altar und verschwand in der Sakristei.
    Ich schaute ihr nach. Eigentlich hoffte ich, dass sie gleich wieder auftauchte, um ihr ungestümes Orgelspiel fortzusetzen, doch nichts geschah. Die Stille war in die Kirche zurückgekehrt, nun klang sie allerdings nach Abwesenheit. Irgendetwas schien plötzlich zu fehlen.
    Ich zündete eine Kerze an, steckte sie zu den vier anderen,die an einem Seitenaltar brannten. Ich dachte an Martin, meinen Sohn, und an den Tod. Als Kind hatte ich mir den Tod als einen warmen, ewigen Schlaf vorgestellt, vor dem man keine Angst haben musste. Später, nachdem wir Martin begraben hatten, war der Tod für mich nur noch ein hässliches, schwarzes Loch gewesen, in dem jeder irgendwann verschwinden würde. Anders als Ira hatte ich nie die Fähigkeit besessen, mir ein Leben nach dem Tod auszumalen, in dem es vielleicht ein Wiedersehen mit all dem gab, was wir vorher verloren hatten. In diesem schwarzen Loch würde auch ich bald verschwinden, aber es war weniger die Verzweiflung über mein Scheitern, die mich zu diesem Entschluss trieb, sondern die Müdigkeit. Ich war zu erschöpft, um mir vorzustellen, auch nur mit einem Schritt dieses öde, trostlose Dorf zu verlassen, in dem ich mich vor der Welt verkrochen hatte.
    Die Organistin kehrte nicht zurück. Als ich die Kirche verließ, roch ich den See. Ein feuchter, kühler Wind wehte herüber, und mir fiel auf, dass ich schon seit einiger Zeit fror. Ein heißer Kaffee wäre nicht schlecht gewesen oder ein Grog, wie ihn ein gestrandeter Seemann trinken mochte, der seinem geschundenen Körper ein wenig Wärme einflößen wollte.
    Linker Hand der Kirche lag der kleine Dorffriedhof. Karg sah er aus, ohne Bäume, nur mit einer Mauer aus Bruchsteinen, die ihn von einer abgegrasten, morastigen Pferdewiese trennte. Den Jungen nahm ich zuerst nur als einen Schatten wahr. Er saß auf einem großen Holzkreuz im hinteren Teil des Friedhofs, ließ die Beine baumeln, als wäre es ein Klettergerüst und der Friedhof ein Spielplatz, und schaute zu mir herüber. Einen Moment lang glaubte ich, er hätte mich verfolgt und auf mich gewartet, so forsehendwar sein Blick. Er trug einen schwarzen Anorak. Diesmal sah er nicht aus, als hätte er im See gebadet.
    Ich hob meine Hand und betrat den Friedhof, doch sofort sprang der Junge von dem Holzkreuz und lief zu einer schmalen Pforte in der rückwärtigen Friedhofsmauer. Was bezweckte er mit seinem seltsamen Verhalten? Langweilte er sich in seinem öden Dorf? Hatte er sich mit mir jemanden ausgesucht, mit dem er Versteck spielen konnte?
    Auf dem Friedhof entdeckte ich eine gewisse Hierarchie. Die ersten Gräber gehörten den Geistlichen des Ortes. Der letzte Dorfpriester war vor zweiundzwanzig Jahren beerdigt worden. Die Gräber, die folgten, waren vollkommen verwittert und mit Moos überwuchert. Nur einzelne Buchstaben ließen sich auf den Steinkreuzen ausmachen. Ich widerstand der Versuchung, nach einem Kindergrab Ausschau zu halten.
    Das Kreuz, auf dem der Junge wie auf einer Parkbank gehockt hatte, war neueren Datums. Michael Conrad – 1962–2001 war in schwarzem Marmor eingraviert. Die Erde auf dem Grab wurde sparsam mit einigen Grünpflanzen bedeckt; eine einsame Rose in einer gläsernen Vase stellte den einzigen Schmuck dar.
    Ich konnte den Jungen nirgends mehr in der Umgebung entdecken, er besaß beinahe die Fähigkeit, sich in Luft aufzulösen, und doch war ich mir sicher, dass er irgendwo lauerte und mich weiter verfolgte. Jeden Schritt über den düsteren Friedhof tat ich in dem Gefühl, als wären zwei glühende Augen wie eine Waffe auf mich gerichtet.
    Die Kirche hielt auf ihrer Rückseite noch eine Überraschung für mich bereit. Neben dem schmalen Eingang zur Sakristei war auf einem Emailleschild das Konterfei meines Vaters zu sehen. Aus der Entfernung wirkte es wie einSchattenriss; erst wenn man vor dem Schild stand, erkannte man seine Züge genauer. »Unserem Wohltäter Joseph Graf« stand unter seinem Bild, dazu der Hinweis auf den Wiederaufbau der Kirche nach einem Großbrand Anfang der achtziger Jahre.
    Ich hatte nichts davon gewusst, dass mein Vater eine Kirche wiederaufgebaut hatte. Religiös geworden war er auch in seinen letzten Monaten nicht, als der Krebs in seinen Eingeweiden gewütet und der Schmerz ihn stumm gemacht hatte. Ira war in seinen letzten Stunden bei ihm gewesen, doch gestorben war er beinahe heimlich, mitten in der Nacht,
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