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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind
Autoren: Reinhard Rohn
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erschrak: seine Mutter oder ich. Die Orgelspielerin ging in die Knie und begann mit hektischen, gleichzeitig hilflosen Bewegungen die Scherben aufzusammeln. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, doch ich war mir sicher, dass sie schluchzte und ihr die Tränen gekommen waren. Währenddessen drehte der Junge sich um und verschwand durch die Tür, ohne mich noch einmal anzublicken.
    Er hat es für mich getan, dachte ich, so, als müsste er mir etwas beweisen. Er wollte mich erschrecken und gleichzeitig beeindrucken. Diese kleine Vorstellung war gar nicht für seine Mutter bestimmt gewesen.
    Ich machte einen Fehler. Meine Neugier hielt mich einpaar Momente zu lange am Fenster. Während die rothaarige Frau die Scherben auflas, wandte sie sich aus einer eher zufälligen Bewegung heraus plötzlich um. Ich wich zurück, wollte wieder in der Dunkelheit verschwinden, aber anscheinend reagierte ich eine Winzigkeit zu spät. Die Frau erstarrte mit den Scherben und zwei Rosen in der Hand. Sie hatte mich entdeckt oder vielleicht nur einen Schatten am Fenster wahrgenommen.
    Auf dem Deich eilte ich zu meinem Haus zurück, um niemandem zu begegnen. Der See lag totenstill da. Nicht einmal vom anderen Ufer drangen Geräusche herüber. Aber ich achtete gar nicht weiter darauf. Scham überkam mich. Warum hatte ich mich dazu hinreißen lassen, Fremden in die Fenster zu blicken? Am liebsten hätte ich laut mit mir geredet, doch so ein Verhalten wäre noch absurder und lächerlicher gewesen. Ich rannte und keuchte, bis mir buchstäblich die Luft wegblieb.

10. Dezember
    Ein Schuss riss mich aus dem Schlaf. Ich erschrak so sehr, dass ich meine Brille nicht finden konnte und mir meinen Weg zum Fenster ertasten musste. Eine erste zarte Helligkeit hatte sich wie Nebel über das Land gelegt. So viel konnte ich immerhin erkennen. Dann, als ich schon glaubte, nur schlecht geträumt zu haben, hörte ich zwei weitere Schüsse. Kurz hintereinander, als wäre der erste das Echo des anderen, wehten sie vom See herüber. Hatte die Jagdsaison begonnen? Durfte man um diese Zeit auf Enten oder Fasane schießen? Ich wusste es nicht.
    Voller Panik zog ich mich an, fand auch endlich meine Brille und lief zum See. Es war so kalt, dass mein eigener Atem vor mir herflog. Niemand war auf dem Deich zu sehen. Ich war allein auf der Welt, und nur für mich stieg die Sonne glutrot aus dem See auf, wie ein Raumschiff, das mit den Seelen der Nacht in den Himmel entschwand.
    Ein paar Momente fing mich dieser Anblick ganz ein. Bis ich den nächsten Schuss hörte und meinen Fischreiher über den See dahingleiten sah. Gehörten diese beiden Dinge zusammen? Ja, ich war mir beinahe sicher. Irgendwo in der Nähe des Dorfes, vielleicht am Bootssteg, stand jemand und feuerte auf den Reiher. Aber anscheinend war da nur ein mäßiger Schütze am Werk gewesen. Der Vogel schien das neue Licht zu genießen. Er breitete seine Flügel aus, so als wollte er die rote Sonne auf jeder Feder spüren. Unbeirrt flog er einen Kreis über dem See. Ein nächster Schuss krachte, der sein Ziel wiederum verfehlte.
    Ich lief los. Selbst der schlechteste Schütze würde irgendwann einmal treffen, vor allem, wenn sein Opfer so stoisch und unaufgeregt seine Bahn zog. Die feuchte Luft drang mir schmerzhaft in die Lunge, wie flüssiges Feuer, das mir die Kehle hinabrann. So angestrengt hatte ich mich in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr. Auf dem Steg entdeckte ich tatsächlich eine Gestalt in einer gelben Regenjacke, die ein Gewehr anlegte. Für einen Moment sah es aus, als wollte die Gestalt auf die Sonne schießen.
    »He!«, schrie ich. »Lassen Sie das! Hören Sie auf!«
    Mein Herz klopfte so laut, dass ich meine eigene Stimme gar nicht hören konnte. Doch die Gestalt auf dem Deich hatte mich gehört. Sie duckte sich zusammen, als müsste sie sich gegen einen Angriff wappnen, dann lief sie den hölzernen Steg hinab auf das Dorf zu.
    Wenn ich ein paar Jahre jünger gewesen wäre oder mir das Feuer in meiner Lunge nicht so viel Schmerzen bereitet hätte, wäre mir der Schütze nicht entwischt. So aber lief er vier Schritte an mir vorbei über den Deich und verschwand zwischen den Wohnwagen auf dem verlassenen Campingplatz. Ich hatte keine Kraft mehr, ihm zu folgen, sondern musste mich auf der einzigen Bank zusammenkauern, die man vor dem Winter noch nicht abgebaut hatte. Die Gestalt bewegte sich mit abgehackten, schwerfälligen Bewegungen, ebenfalls wie ein alter Mann, der das Laufen nicht mehr
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