Das Winterkind
Haus vergessen. Dann erst bemerkte ich, dass sie in ein Gebet vertieft waren und Worte vor sich hin flüsterten. Ich lief an der einzigen Telefonzelle des Dorfes vorbei, die mir wie eine helle Säule aus Licht vorkam, passierte den kleinen Supermarkt und ging wieder auf die Kirche zu. Sie lag in völliger Dunkelheit da, wie ein kalter, grauer Felsen in der Nacht; kein Licht brannte in ihr. Auch der mit elektrischen Kerzen geschmückte Weihnachtsbaum auf dem Kirchplatz war lediglich ein großer düsterer Schatten. Nur auf dem Friedhof flackerten ein paar Kerzen auf den Gräbern.
Ein trauriger Gedanke überfiel mich, als ich zwischen den Gräbern umherschritt. Dreiundfunfzig Jahre lang hatte ich zu den unbeirrbaren Menschen gezählt, die stolz auf ihre Biografie waren und stets behaupteten, sie würden alles in ihrem Leben noch einmal genauso machen. Aber das war eine Lüge gewesen, die ich insgeheim schon lange durchschaut hatte. Ich würde nichts noch einmal machen. Vielleicht hätte ich sogar Ira nicht noch einmal geheiratet, obwohl sie das Beste war, was mir in meinem Leben widerfahren war. Nein, in einem anderen Leben hätten wir nicht nur einen Sohn, sondern mindestens fünf Kinder gehabt. Wir hätten nicht in einem großen Haus mit einem Palisadenzaun gewohnt; ein viel kleineres Haus hätte genügt; vielleicht wäre Ira tatsächlich Lehrerin oder Malerin geworden, und ich … Wenn ich ehrlich war, fiel mir nicht ein, was ich getan hätte, statt meinem Vater nachzueifern. Ich hatte nichts anderes gelernt, vor allem nicht, Fantasie zu haben.
Wahrscheinlich ging es allen Menschen kurz vor ihrem Tod so, dass sie eine große Sehnsucht nach Zeit überfiel.Wenn doch jemand käme und ihnen ein paar Jahre schenken würde! Aber auch dieses Gefühl änderte nichts an meinem Entschluss.
Eine Katze schlich über den Friedhof. Majestätisch schritt sie an mir vorbei, hob kurz den Kopf und warf mir einen fragenden Blick zu. Was tust du hier?, sagte dieser Blick. Nachts gehört dieser Platz ganz alleine mir.
Plötzlich hörte ich auch eine Frauenstimme, klar und eindeutig, wie ein scharfes Messer schnitt sie durch die Nacht. »Mark!«, rief die Stimme. »Komm sofort her. Es hilft dir nichts, wenn du dich versteckst.« Eine Tür schlug zu und schreckte die Katze auf.
Auf der anderen Seite der Kirche lag das Pfarrhaus. In einem Fenster im Erdgeschoss erspähte ich die rothaarige Orgelspielerin. Sie kehrte mir den Rücken zu, trotzdem erkannte ich sie sofort. Im Schein einer hellen Lampe wirkte ihr Haar wie flüssiges Kupfer. Sie hatte die Hände vor der Brust verschränkt und redete mit jemandem. Das Zimmer diente offenbar als Arbeitszimmer. Ein Schreibtisch mit einem Computer war zu sehen, dahinter ein gut gefülltes Bücherregal. Die Rothaarige war also die Ehefrau des Pastors. Ich hörte ihre Stimme, ohne einzelne Worte zu verstehen, doch erst als ich mein Gesicht näher an das Fenster heranschob, erblickte ich den Jungen im hinteren Teil des Zimmers. Er trug wie gestern auf dem Friedhof seinen schwarzen Anorak und machte ein trotziges Gesicht. Die Strafpredigt, die seine Mutter ihm hielt, schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Kein einziges Wort entgegnete er, sondern blickte nur starr vor sich hin, abweisend, als könnte er ihre Sprache gar nicht verstehen.
Dann geschahen plötzlich drei Dinge, beinahe wie in einem modernen Theaterstück, in dem die Schauspieler lediglichdurch Gesten agieren und ihre Worte keine Bedeutung haben. Während die Orgelspielerin weiter auf den Jungen einredete, beobachtete ich, wie er für einen winzigen Moment die Augen zusammenkniff und an seiner Mutter vorbei zu mir hersah. Drang genügend Licht vor der Straßenlaterne herüber, dass er mich vor dem Fenster erkennen konnte? Doch statt mich, den Voyeur, zu verraten und so seine Mutter von ihrer Strafpredigt abzulenken, wurde sein Schweigen noch härter und entschlossener. Im nächsten Augenblick streckte die Rothaarige eine Hand nach ihm aus. Diese sanfte Geste war nicht misszuverstehen, ein eindeutiges Zeichen zur Versöhnung. »Komm her, ich liebe dich doch«, sagte diese Geste. Der Junge aber beantwortete sie auf eine ganz eigene Art und Weise. Aus dem Regal neben sich nahm er eine Vase, in der ein paar Rosen standen. Er hob die Vase hoch, als wollte er an den Blumen riechen oder sein Gesicht verbergen, dann schaute er mich an, mit einem offenen, neugierigen Blick, und ließ die Vase zu Boden fallen.
Ich weiß nicht, wer mehr
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