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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind
Autoren: Reinhard Rohn
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während sie mit der Nachtschwester des Pflegeheims einen Kaffee getrunken hatte. Wo war ich zu der Zeit gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern. So viele Jahre waren vergangen. Es hatte immer dringende Geschäfte zu erledigen gegeben, und wenn ich ehrlich war, hatte mir mein todkranker, stummer Vater eine Furcht eingeflößt, die ich nicht einmal im Leben vor ihm gehabt hatte.

9. Dezember
    Sonntag – ein Tag, der allen Arten von Hoffnungslosigkeit und Leere Tür und Tor öffnet. Früher hielt ich mir etwas darauf zugute, dass ich mir diesen Tag ohne jeden Termin für Ira freihielt, so als könnten wir in dieser freien Zeit tatsächlich etwas miteinander anfangen. Meistens jedoch frühstückten wir lediglich gemeinsam, lasen uns Dinge aus der Zeitung vor, wenn uns das Schweigen zu viel wurde, und dann ging ich in unser Schokoladenmuseum hinüber.Obwohl mein Vater noch den Grundstein gelegt hatte, war das Museum mein ganzer Stolz. Stundenlang konnte ich mich unter die Besucher mischen, konnte den Kindern zusehen, wie sie an einem Schokoladenbrunnen naschten oder wie die Alteren ihre eigene Schokolade pressten.
    Ich vermisste Ira, und manchmal überkam mich ein heftiger Schmerz, wenn ich daran dachte, dass ich sie wahrscheinlich niemals wiedersehen werde, dass wir unser Leben gelebt hatten. Was würde ich dafür geben, wenn ich sie noch einmal im Arm halten könnte wie damals, vor über dreißig Jahren bei unserem ersten Kuss? Auch wenn vieles, was wir gemeinsam erlebt hatten, verschüttet wurde, wenn wir später nur noch in unserem Schweigen zu Hause waren, so erinnerte ich mich an diesen Kuss mit einer Klarheit, als wäre ich niemals wieder so lebendig gewesen wie in dieser einen Nacht. Ich hatte zu den Freunden ihrer Freunde gehört, allerdings hatten wir niemals ein Wort miteinander gesprochen. Ira mied mich, weil sie, eine mittellose Kunststudentin, mich für einen arroganten Fabrikantensohn hielt. Ich sehe, wie Ira über einen gepflegten, weichen Rasen läuft, sie trägt keine Schuhe und ist ganz allein, und hinter uns geht die Party lärmend weiter, doch darauf achte ich gar nicht mehr. Als ich plötzlich vor ihr stehe, bemerke ich, dass sie eine kleine, schneeweiße Katze im Arm hält. Die Katze duckt sich ängstlich, als wolle sie in Iras Armen verschwinden, dann jedoch richtet sie sich drohend auf und macht einen riesigen Satz, um vor mir in der Dunkelheit zu verschwinden. Ich höre noch, wie Ira leise aufschreit; nein, sie schreit gar nicht, nur ein leises, überraschtes Stöhnen entweicht ihren Lippen, als die Katze davonspringt. Ihr rechter Unterarm ist plötzlich voller Blut; die Katze hat ihre Krallen ausgefahren, währendsie zum Sprung ansetzte. Ich reagiere sofort, bin mit einem Taschentuch zur Stelle und mit tröstenden Worten. Wie ein besonders fürsorglicher Arzt tupfe ich ihren Arm ab, auch als die Wunde schon längst nicht mehr blutet, und ich weiß, als wäre es erst vor ein paar Momenten geschehen, dass ich meine Augen schloss, bevor ich mich über sie beugte und sie zu meiner eigenen Überraschung küsste. Ich wollte ihr Haar riechen, ihre Haut, und am liebsten wäre ich sogar mit meiner Zunge über ihren Unterarm gefahren, um ihr Blut zu schmecken. Später fiel mir auf, dass ich mich nie wieder einem Menschen so mutig genähert hatte wie Ira bei diesem ersten Kuss.
    Bis es wieder dunkel wurde, blieb ich im Haus. Wie ein Dieb, der allen Grund hatte, das Licht zu scheuen. Ich fand eine alte Landkarte. Sie zeigte die Gegend um den See und die umliegenden Dörfer, wie sie vor fünfzig Jahren aussah, als mein Vater das Grundstück gekauft hatte. Es fehlten die Autobahn in der Nähe und die Siedlung mit den Ferienhäusern. Ich überlegte mir ein paar neue Wege um den See, die ich in den nächsten Tage gehen könnte, beinahe, als müsste ich mir kurz vor meinem Tod noch ein paar Kräfte antrainieren.
    Erst als es so dunkel war, dass ich das matte Licht der Straßenlaternen im Dorf sehen konnte, verließ ich das Haus. Ein kalter Wind war aufgekommen. Vogelschreie drangen vom See herüber. Die Enten vermutlich, die sich im Schilf ihr Nachtlager suchten.
    Ich ging ins Dorf hinunter, vorbei an ein paar hell erleuchteten Fenstern. In den meisten Häusern lief der Fernseher, versendete hektisches bläuliches Licht; in einem sah ich zwei Alte an einem gedeckten Küchentisch sitzen. Beide mochten um die achtzig sein; reglos saßen sieda, als warteten sie auf jemanden, als hätte man sie in ihrem eigenen
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