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Das Vermächtnis der Wanderhure

Titel: Das Vermächtnis der Wanderhure
Autoren: Iny Lorentz
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zerkratzt hatte.
    Im ersten Augenblick erschrak Marie, als sie die attraktive Edeldame vor sich sah, die kaum mehr als die Hälfte ihrer eigenen Jahre zählen mochte. Es erschien ihr nicht sehr wahrscheinlich, dass Michel so ein junges, gesundes Weib von sich schieben würde, um eine alte Frau wie sie zu behalten. Dann nahm sie auf dem Antlitz ihrer Rivalin den Widerschein von Angst wahr und den beklommenen Blick, den diese mit dem Junker neben sich wechselte. Nun erst erkannte Marie Ingold von Dieboldsheim, der noch zu ihren Zeiten auf die Burg gekommen war. Mit ihm sollte Schwanhild den Gerüchten nach, die sie von Mariele zugetragen bekommen hatte, die Ehe gebrochen haben. Marie war erfahren genug, um das Band zu spüren, das die beiden jungen Menschen aneinander fesselte, und fühlte Zorn in sich aufsteigen. Michel war nicht der Mann, dem ein Grünschnabel wie dieser Junker ungestraft Hörner aufsetzen durfte, und Abscheu stieg in ihr auf. Doch sie verachtete weniger den Junker als die Frau, die es gewagt hatte, Michel so einen Tort anzutun.
    Maries Gefühle ließen sie streng und hart erscheinen, und so krümmten Schwanhild und der Junker sich unter ihrem Blick. Beide wussten, dass sie schuldig geworden waren, und sahen keinen Ausweg mehr für sich und ihre Liebe. Ingold entschloss sich in diesem Augenblick, die Pilgerfahrt zum heiligen Jakobus nach Compostela anzutreten, die ihm sein priesterlicher Verwandter angedroht hatte, und flehte den Heiligen in Gedanken an, sichseiner Liebsten anzunehmen. Das Wissen aber, dass Schwanhild nun ihre Rechte als Gemahlin Ritter Michels verlieren und in ein Kloster abgeschoben werden würde, brach ihm beinahe das Herz.
    Während Marie Michels zweite Ehefrau mit einem kühlen Blick musterte und Ingold sich aus Sorge um seine Geliebte innerlich zerfraß, stieg Michel gelassen von seinem Pferd und warf einem Knecht die Zügel zu. »Wir sollten in die Halle gehen! Ich hoffe, dort brennt ein Feuer, an dem wir uns wärmen können. Tischt von dem Gewürzbier auf, das Zdenka so meisterlich zu brauen versteht, und serviert uns ein Mahl, denn ich dürfte nicht der Einzige sein, der Hunger hat.«
    Seine Worte lösten den Bann, der die Menschen im Hof hatte erstarren lassen. Sofort eilten Knechte herbei, um Marie und den anderen Frauen aus den Sätteln zu helfen. Eva, Theres und einige Mägde nahmen die Kinder entgegen, die ihnen gereicht wurden.
    Dabei gelang es der alten Marketenderin, den kleinen Falko an sich zu drücken. »Du bist also Maries und Michels Sohn. Das sieht man dir an, mein Junge. Sagst du das nicht auch, Trudi?«
    Im letzten Augenblick war ihr eingefallen, dass sie Falkos Schwester nicht über dem Jungen vernachlässigen durfte. Trudi lief sofort an ihre Seite und griff zu Falko hoch. »Ich finde, er sieht wie Mama aus. Ich komme ja mehr nach Papa!«
    »Ich hoffe, das bleibt nicht so. Anders herum wäre es nämlich besser!« Evas trockene Antwort brachte die meisten der Anwesenden zum Schmunzeln. Schwanhild, Ingold und das Gesinde, das sich um die beiden versammelt hatte, zogen jedoch noch längere Gesichter.
    Marie war ebenfalls zu angespannt, um den Ausspruch mit einem Lächeln quittieren zu können. Mit einem tiefen Seufzer stieg sie die Freitreppe hoch und betrat dann den Saal, den sie einst nach ihren eigenen Vorstellungen hatte einrichten wollen. Im Unterschied zu den Außenanlagen waren hier nur ein paarkleinere Schäden ausgebessert worden. Die Wände wirkten immer noch kahl und abweisend, und die Flickenteppiche auf dem Boden waren zwar neu, aber lieblos zusammengestoppelt. Nur die große, geschlossene Truhe, die in einer Ecke stand, hatte es vorher noch nicht gegeben.
    Michel war Maries Blick gefolgt. »Dort liegen immer noch die Sachen, die du kurz vor deiner Abreise nach Rheinsobern in Auftrag gegeben hast.«
    Marie öffnete den Deckel und blickte hinein. »Dann ist es an der Zeit, dass all das hier zu Ehren kommt.«
    Sie ließ den Deckel zufallen und wandte sich mit einem Ruck zu Schwanhild um. »Du bist also das Weib, mit dem der Kaiser meinen Gatten vermählt hat, da alle von meinem Tod überzeugt waren.«
    In Schwanhilds Augen stand zu lesen, was sie von Frauen hielt, die spurlos verschwanden, um nach mehr als zwei Jahren wiederzukehren und Ansprüche zu stellen. Sie wagte jedoch nicht, Marie dies ins Gesicht zu sagen. Daher ging sie nicht auf deren Bemerkung ein, sondern knickste vor Michel und blickte sichtlich nervös zu ihm auf.
    »Mein Herr, Ihr
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