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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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Nabelschnüre, irgendwann würde er diesem Uhrwerk die vollständige Mündigkeit über das gesamte Glockenspiel der Kirche erteilen, irgendwann würde er diese Mechanik aus den menschlichen Stützen und Hilfen entlassen. Und dies sollte ein besonderer Tag werden, ein Tag der Befreiung und des Fortschritts. Er würde seinen Vater nach Hause führen, den seines Amtes enthobenen Glöckner von Le Locle, und mit ihm auf diese Errungenschaft anstoßen, so wie sein Vater mit Nachbarn und Freunden anzustoßen pflegte zu Weihnachten und zu Ostern, zu
Geburts- und Todestagen. Es sollte sein Geschenk werden an den, der ihn großgezogen, an den, der ihm die Chance gegeben haben würde, das zu werden, was er werden wollte, nämlich der größte Uhrmacher des Neuenburger Juras, der Meister, der es geschafft hatte, das Uhrwerk der Kirchenuhr von Le Locle so weit zu verfeinern, dass es keinerlei menschliche Assistenz mehr benötigte. Jean-Louis Sovary hatte alles im Kopf, jede einzelne Bewegung, jedes einzelne Teilchen der Mechanik, und er wusste, dass sein Vater alles unternehmen würde, um ihm dieses Unternehmen zu vereiteln. Er hörte schon seine Rufe unten in der Sakristei, dann die energischen, schnellen Schritte, die aggressiven Fußtritte, die auf die knarrenden Holzstufen niederknallten. Jean-Louis verkroch sich hinter den Rädern, versteckte sich unter einer Glocke, während sein Vater fluchend und schimpfend die Treppe heraufstapfte.
    »Wo steckst du? Verdammt, zeig dich! Hast wieder nur Schwachsinn im Kopf? Das Glockengeläut raubt dir noch den Verstand!«, rief sein Vater und klopfte mit der Faust auf das schwere Eisen der stummen Glocke. Der leise Ton dämpfte den Wutausbruch seines Vaters ein bisschen.
    »Komm, Mutter wartet zu Hause, ist doch dein Geburtstag!«
    Mildernde Umstände hatte Jean-Louis nicht erwartet. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Jean-Louis kroch unter der Glocke hervor und ließ sich, was unvermeidlich war, aber noch nichts heißen musste, einmal mehr heftig am Ohr ziehen. Irgendwann würde sein Vater es ihm ausreißen, irgendwann würde die Haut nachgeben, den Knorpel freilegen, und das Ohr würde bluttriefend in seiner Hand bleiben.

    »Wenn ich dich hier oben noch einmal erwische, Jean-Louis, dann kannst du was erleben!«, schimpfte sein Vater und stieß ihn vor sich her die Treppe hinunter. Aber dabei blieb es für diesen Tag. Der Geburtstag, der zehnte, das forderte der Hausherr persönlich, sollte in Frieden gefeiert werden.

2
    Der Kuchen stand auf dem Tisch. Hélène, Sophie und Marie, Jean-Louis’ große Schwestern, waren schnell gewesen. Sie hatten nicht gewartet, bis der Vater fertig ausgeläutet, seinen kurzen Kontrollgang durch die Bänke im Kirchenschiff gemacht, Weihwasser nachgefüllt und die Sakristei aufgeräumt hatte. Sie waren Mutter zu Hilfe geeilt und hatten den Tisch gedeckt, ihn mit frischem Grünzeug und ein paar Schneeglöckchen geschmückt. Für einmal zankten sie sich nicht, keiften nicht, zogen sich nicht an den Haaren, und keine der drei hatte sich wütend und heulend ins Schlafzimmer eingeschlossen. Alle schienen sich Mühe zu geben, und Mutters breites Bäuerinnengesicht strahlte über den dampfenden Kochtöpfen.
    Jean-Louis setzte sich an seinen Platz und ließ sich überraschen. Er konnte sich alles vorstellen, aber was man sich für ihn ausgedacht hatte, übertraf alle seine Erwartungen, alle noch so geheim gehaltenen Hoffnungen und Befürchtungen.
    Das mit einem hellen Leinenstoff umwickelte und mit einem blauen Band kunstvoll geschnürte Paket auf dem Tisch war ihm sofort aufgefallen. Von Grünzeug und Schneeglöckchen verdeckt, lag es zwischen den Tellern. Dann kamen die Töpfe und Pfannen, sorgsam wurde alles um das Geschenk herum angerichtet. Die Schwestern kicherten,
Vater schnäuzte in sein großes Sonntagstaschentuch, und Mutter strich sich den Schweiß aus der Stirn. Zehn Jahre! Und das an einem Sonntag. Der Schnee war vergangen, die Rügen vergessen, die Strafen abgearbeitet. Eifrig schlürfte Jean-Louis die Linsensuppe, biss mit großem Appetit in die von Saft triefende Waadtländer Wurst, verschlang Sauerkraut im Übermaß. Sogar Kartoffeln, seine Lieblingsspeise, gab es an diesem Festtag.
    Jean-Louis wusste, dass er das, was er sich heimlich am sehnlichsten wünschte, nicht bekommen würde. Aber auf eine so große Überraschung war er nicht gefasst. Im Gegensatz zu dem, was man für ihn bereithielt, war das, was er sich wünschte, eine
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