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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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Münze wäre meine Arbeit wert ohne mein Talent. Nicht eine verlorene Seele würde sich in meine Werkstatt verirren, wäre da nicht diese Präzision und die Zuverlässigkeit meiner Gabe im Umgang mit Holz. Dir aber sind die Einfälle wichtiger als die Ausführung, du arbeitest mit dem Kopf, nicht mit den Händen. Dein Leben lang wirst du kämpfen müssen, um
dein fehlendes Talent wettzumachen. Dein Leben lang wirst du den erbärmlichen Erfolgen anderer nacheifern müssen, nur um eine magere Suppe in den Magen zu bekommen. Obendrein ist die Uhrmacherei kein lukratives Geschäft. Schau dir die Leute doch mal an. Ist etwa einer von ihnen reich geworden mit seinen Pendulen? Sogar der Begabteste unter ihnen, der Droz aus La Chaux-de-Fonds, will jetzt bis nach Madrid reisen, nur um dem König von Spanien ein paar seiner mühsam erstellten Glockenspiele zu verkaufen! Wahrlich ein beschwerliches, langwieriges und obendrein gefährliches Unternehmen. Würde mich ja doch wundern, sollte der Droz von dieser absurden Reise unbehelligt wieder zurückkommen! Und zudem versteht sich ja heute jeder bereits als Uhrmacher, bloß weil er einmal ein paar Schrauben, Federn und Zahnräder in einen meiner Holzkästen montiert hat! Nebenher halten sich dann doch alle etwas Vieh, züchten Hühner, ernten Obst und keltern Wein. Aber dazu bist du nicht geschaffen, mein Sohn. Du hast deinen Wirrkopf, der wird dich vor der Misere retten, der soll dir und der Welt etwas nützen!«
    Jean-Louis hatte wohl die Worte, nicht aber deren Sinn verstanden. Die Mutter heulte nun nicht mehr. Mit gefalteten Händen saß sie auf dem Sofa und lächelte durch ihr Tränen verschmiertes Gesicht.
    »Du fährst in zwei Wochen«, sagte Marie in einem bestimmenden, harten Ton und begann, den Tisch abzuräumen.
    »Ich soll auf Reisen gehen?«
    Alle starrten ihn erwartungsvoll an.
    »Wohin denn?«
    »Nach Porrentruy, ins Jesuitenkollegium.«

3
    Pfarrer sollte Jean-Louis also werden, ein Diener und Vertreter Gottes vor dem Volk, ein Vorbeter, Litaneiensänger, Hostienverteiler, Weihwasserspritzer und Segengeber im sonntäglichen Gottesdienst. In Zukunft sollte er also Beichten abnehmen von Leuten, die ihr Gewissen durch obskure Machenschaften und Veruntreuungen aus dem Lot gebracht hatten, ihnen Buße und Gelübde abnehmen, sie lossprechen, erlösen und in Gottes Schutz nehmen. Jean-Louis sollte dazu bestimmt sein, in den Vorhof der Gesegneten und Heiliggesprochenen aufzusteigen und von der Kanzel herunter Recht von Unrecht zu trennen und zu bestrafen, wen und was Gott der Allmächtige zu strafen beliebte. Jean-Louis sollte sich in Demut und religiösem Gehorsam üben, in Katechismus und Liturgie, er sollte Latein und Griechisch lernen und die Bibel studieren und die Gesangbücher auswendig lernen, er sollte nach Rom pilgern und in einen Orden eintreten. Früher oder später würde er selbst mehrere Gelübde ablegen müssen und alle persönlichen Wünsche, Vorstellungen, Ideen und Erwartungen von sich abstreifen wie alte Kleider. Jean-Louis in einer langen Robe, Jean-Louis dick und aufgedunsen hinter dem Altar wie der Dorfpfarrer, wie der Pfarrer in La Chaux-de-Fonds, wie derjenige von Saint-Imier oder der alte in La Brévine. Nur der Kaplan in Saignelégier war
hager wie eine Fichte im Winter, und die Augenhöhlen waren so tief und finster wie kleine Tore, die direkt in die Hölle führen. Jean-Louis versuchte, sich seine Zukunft vorzustellen, sich in die Rolle hineinzuversetzen, für die man ihn auserwählt hatte, während er, gekleidet in die frische neue Hose und das makellose weiße Hemd, ein Kostüm, das er, im Gegensatz zur Vorstellung, Pfarrer zu werden, nie wieder ablegen wollte, wie in Trance die Straße hinunterrannte. Ein steiniger Weg, der fortführte vom Haus, weg vom Dorf, hinaus und hinunter, fort von da, wo er aufgewachsen war, als würden ihn diese verzweifelten Schritte vor seinem unausweichlichen Schicksal retten, als vermöchten seine flinken Kinderbeine den Willen seines Vaters zu brechen.
    In der ganzen für ihn auf dem Fußweg erreichbaren Umgebung, die von Le Locle aus zu den umliegenden Dörfern und bis nach La Chaux-de-Fonds reichte, gab es nur eine Person, die den nötigen Einfluss, die rhetorische Autorität und die geschäftlichen und finanziellen Mittel hatte, um seinen Vater von seinem für Jean-Louis so folgenschweren Entschluss abzubringen. Jean-Louis hatte seinen Vater mit den Männern im Dorf von der Konstruktion eines Wagens
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