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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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bescheidene Kleinigkeit. Er brauchte Glocken, vier kleine Glöckchen hätten gereicht, etwas Holz und ein gut geschliffenes Messer. Den Rest würde er sich sonst irgendwie und irgendwo zusammensuchen. Aber er hatte seinen Plan, das Kirchenuhrwerk mitsamt den Stundenschlägen und dem Sonntagsgeläut in einer verkleinerten Version nachzubauen, niemandem verraten. Er durfte sich keine Blöße geben. Ein falsches Wort in das Ohr seines Vaters, und sein Vorhaben stürzte in den Abgrund der Unmöglichkeit. Nichts war dem Vater ein größerer Dorn im Auge, als wenn Jean-Louis sich wieder etwas ausgedacht hatte und eines seiner Werkzeuge benützte. Wie viele Feilen, wie viele Bohrer, wie viele Zangen hatte Jean-Louis bereits verbogen, zerbrochen, unscharf gehauen. Wie viele wertvolle, einzigartige Holzstücke hatte er in seinen zehn Kinderjahren barbarisch zersägt, zerbohrt, zerstückelt und zu unnützen Gebilden zusammengebaut. Freveln nannte es sein Vater, nicht bauen, nicht konstruieren, nicht erfinden, nicht einmal spielen, nein freveln, sich an
Material und Werkzeug vergehen. Seit zwei Jahren hatte Jean-Louis Zutrittsverbot zur Werkstatt im Hinterhaus, dort, wo auch die Kaninchen und Hühner hausten. Zwischen dem kleinen Reserveheulager und dem alten Rinderstall hatte sein Vater die Werkstatt eingerichtet, in der er Gehäuse für Pendeluhren baute, Rohlinge für die Uhrmacher der Umgebung, ein kleiner Nebenverdienst für die langen Wintermonate, den Jean-Louis’ Vater sich in den vergangenen Jahren neben der Landwirtschaft aufgebaut hatte. Seine Kunstfertigkeit, mit Holz umzugehen, hatte sich schnell herumgesprochen, und die Uhrmacher kamen sogar aus den Nachbardörfern und aus La Chaux-de-Fonds, um in seiner Werkstatt von einigen Probegehäusen einen Augenschein zu nehmen. Nichts, und schon gar nicht ein kleiner Junge, auch nicht, wenn es sich dabei um seinen eigenen Sohn handelte, sollte diesen aufsteigenden Nebenerwerb aufhalten. Jean-Louis schien das nicht zu begreifen und konnte nur durch strengsten Arrest und verschlossene Türen davon abgehalten werden, sich in der Werkstatt zu tummeln, Werkzeuge und Materialien herauszureißen, in den Abfällen zu wühlen, frisches Holz zu verschmutzen, angefangene Aufträge zu beschädigen oder gar zu zerstören.
    »Jean-Louis, du bist ein Wirrkopf! Lass die Finger von den Werkzeugen!«, pflegte sein Vater zu sagen, wenn er gut aufgelegt war. Aber meistens war er schlechter Laune und sagte überhaupt nichts Verständliches, brüllte nur, zog ihn am Ohr, bis es beinahe riss; dann packte er ihn an den Haaren oder griff nach dem erstbesten Gegenstand, um damit nach ihm zu schlagen. Jean-Louis’ Konstruktionen landeten im Müll, wurden zu Kleinholz zerhackt und im Ofen verfeuert.

    Aber an diesem Sonntag saß der Vater ruhig am leer gegessenen Mittagstisch, rauchte die Sonntagspfeife und schien gar zu lächeln. Vielleicht hatte er doch, unter mysteriösen Umständen, die nur Vätern und Müttern bekannt sind, an die Glocken gedacht, obwohl davon niemand etwas wissen konnte, oder wenigstens an das Messer, das Jean-Louis sich seit mehr als zwei Jahren wünschte, oder gar an ein ganz spezielles Werkzeug, das er noch nicht kannte. Irgendetwas schien unter dem dicken Schnurrbart verborgen, irgendetwas schien in den sonst so finsteren Augen zu funkeln.
    »Mach schon auf!«, drängten die Schwestern.
    Mutter nickte lächelnd, und Vater blies eine dicke Rauchwolke über den Tisch. Jean-Louis zitterte vor Aufregung. Er konnte es nicht fassen, so kurz vor der Erfüllung eines lange gehegten Wunsches zu stehen. Er brauchte nur die Arme ausstrecken und nach dem unter Grünzeug und Schneeglöckchen verborgenen Geschenk langen, es an sich nehmen und auspacken. Nichts sollte einfacher sein, als ein Paket aufzuschnüren. Aber diese Geste schien so folgenreich und so lange ersehnt, dass sie schlicht nicht auszuführen war. Jean-Louis dachte an all seine Konstruktionen, an all seine Erfindungen, an all seine Pläne im Kopf, deren Realisierung nun endlich möglich sein würde. Er war zehn Jahre alt, älter als die älteste Kuh im Stall, älter als alle Kaninchen zusammengerechnet. Nur der Hund war älter, und die Schwestern würde er auch mit aller Anstrengung nicht einholen können. Aber nun war er zehn, und das war mindestens die zwölf Jahre von Sophie und die vierzehn Jahre von Hélène wert. Nur Marie war älter, vor ihr hatte er Respekt, sie war die Einzige, der Jean-Louis
seine Ideen und
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