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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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Pläne erzählen konnte, ohne gleich ausgelacht oder bei seinem Vater verraten zu werden. Marie hatte ihn in ihr Herz geschlossen wie eine zweite Mutter, sie war es, die ihn wirklich verstand.
    Jean-Louis griff nach dem Paket und zog es unter dem Grünzeug hervor. Es war leichter, als es den Anschein machte, als wäre es mit Papier gefüllt. Jean-Louis zitterte, der Vater blies Rauchwolken über den Tisch, die Mutter verschränkte die Arme, lächelte verstohlen, und die Schwestern tuschelten und kicherten.
    »Was habt ihr bloß?«
    »Nun mach schon auf!«
    »Worauf wartest du?«
    Jean-Louis zog an dem blauen Stoffband. Die Schlaufe zerfiel, und das Band löste sich. Vorsichtig wickelte er den Leinenstoff aus. Im Innern knisterte Papier, und eine unheilvolle Ahnung übertrug sich aus dem Geräusch auf Jean-Louis, der nun, in Trance beinahe, den Deckel seines Schicksals lüftete. Ein weißes Hemd, fein säuberlich gebügelt und zusammengefaltet, lag es da auf einer ebenso fein säuberlich gefalteten Kniehose, einem Paar schwarz glänzender Lederschuhe und weißen Socken. Diese Kleider waren anders als die gewöhnlichen, die seine Mutter und die Schwestern aus allerlei Stoffen selber machten, sie mussten von einem Schneider stammen. Jean-Louis befreite die Stücke ganz aus dem Papier und legte sie auf den Tisch, fasste das Hemd am Kragen und zog es hoch, als entfaltete er ein amtliches Schreiben. Elegant wog es sich im väterlichen Pfeifenrauch. Jean-Louis legte das Hemd auf den Tisch zurück und schüttelte auch die Hose aus den Falten.
    »Zieh’s an!«, rief Sophie begeistert.

    »Zeig dich her!«, doppelte Hélène nach und drückte ihm das Hemd an die Brust.
    Jean-Louis blieb nichts anderes, als in die Speisekammer zu flüchten und sich seiner alten Fetzen zu entledigen. Die neuen Kleidungsstücke und die Schuhe passten wie maßgeschneidert. Nie in seinem Leben hatte er ein so weißes, so geschmeidiges, so elegantes Hemd, nie eine so saubere Hose getragen. Noch nie war er in so glänzenden Schuhen durch die Welt spaziert. Er fühlte sich groß, stark und mächtig. Was mochte ihm noch den Weg versperren? Was konnte ihn aufhalten?
    Er trat in die Küche hinaus, und die Schwestern grinsten und kicherten wieder.
    »Was ist denn bloß? Steht mir das etwa nicht?«
    Jean-Louis trat ins Wohnzimmer, um sich in seinem neuen Rang den Eltern zu präsentieren.
    Der Vater nickte und blies ein paar Rauchwolken über den Tisch. Mutter klatschte beide Hände auf ihre Wangen, beugte sich zu ihm hinunter und zupfte an den Ärmeln, am Kragen, am Hosenbund, sie hatte Tränen in den Augen.
    »Hinten musst du das Hemd ein bisschen zur Seite umfalten, so!«, sagte sie, riss das Hemd raus und stopfte es ihm wieder in die Hose zurück.
    »Warum weinst du? Gefällt dir das Hemd nicht?«
    Jean-Louis verstand die Tränen in den Augen seiner Mutter nicht. Er hatte ein Hemd, eine Hose, weiße Socken und Schuhe zum Geburtstag erhalten, die Sachen angezogen, und nun weinte sie. Der Vater rauchte nur, und die Schwestern waren verstummt. Hélène und Sophie saßen auf dem Sofa, Marie stand neben der Mutter und hatte die Hand auf ihre Schulter gelegt.

    »Was ist?«, rief Jean-Louis verzweifelt, »ist das ein Geburtstag oder eine Beerdigung?«
    Die Mutter heulte los, der Vater rauchte weiter. Sophie und Hélène tuschelten wieder und kicherten.
    »Was habt ihr bloß? Was ist mit den Kleidern?«, rief Jean-Louis und tastete sein Hemd und die Hose nach einem Zeichen ab.
    »Das eigentliche Geschenk war nicht in dem Paket«, sagte Marie mit einer Portion Ernsthaftigkeit, die Jean-Louis das Blut in den Adern gerinnen ließ.
    »Jean-Louis, mein kleiner Wirrkopf«, sagte sein Vater nun endlich und setzte die Pfeife auf dem Tisch ab. »Hör zu! Jeder Erdenbürger, ob klein oder groß, ob reich oder arm, ob dumm oder gescheit, hat seine Mission in dieser Welt. Tierhaltung und Landwirtschaft scheinen die deine nicht zu sein. Ich weiß, dass du davon träumst, Uhrmacher zu werden. Aber schau dir all die Werkzeuge an, die du mir bereits kaputt gemacht, all das Holz und das Material, das du mir verschlissen hast, nur weil du glaubst, ein einfallsreicher Mechanicus zu sein. Was glaubst du wohl, wie erfolgreich du mit so wenig Talent als Uhrmacher werden wirst? Du kannst noch so einfallsreich sein, nicht eine Uhr wird man dir abkaufen, wenn sie nicht mit Präzision das ausführt, was ihr Zweck ist: die Zeit angeben. Ich weiß, wovon ich rede. Nicht eine müde
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