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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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Er vergaß seine Schwestern und die guten Ratschläge der Mutter, ließ hinter sich all die Vorwürfe seines Vaters, der unten an den Seilen zog. Jean-Louis beobachtete das stetige Auf und Ab der Hanfseile, folgte den Bewegungen über und durch die Räder hinweg bis zum Anschlag an den Balken, welcher die Glocken trug. Der Schwung und die Kraft in diesen eisernen Hüllen entfalteten sich durch die harten Schläge in voller Pracht und eröffneten sich ihm, der hier treu auf dem Bretterboden unter ihnen lag, in einer akustischen Schönheit, die ihm beinah das Bewusstsein raubte.
    Die Schelte des Vaters war so sicher wie das Amen des Pfarrers nach der Messe, die Jean-Louis träumend im Gebälk des Kirchturms verpasste. Die Bewegungen der Holz- und Metallräder des Uhrwerks leiteten ihn durch die Etappen der Sonntagsmesse. Jean-Louis kannte die Bedeutung jedes einzelnen Schlages, er kannte die Litaneien und Lieder auswendig. Niemand, und sein Vater am wenigsten, glaubte ihm, dass er die langen Pausen innerlich durchrezitierte und abbetete wie der treuste Gläubige unten im Kirchenschiff. Niemand nahm ihm seine tiefe innere Untertänigkeit vor Gott und seinem Stellvertreter auf Erden ab, da er doch die Messe schwänzte und, statt sich durch Bußgebete zu läutern, im Kirchturm herumphantasierte. Denn niemand hatte eine Ahnung davon, was Jean-Louis jeden Sonntag in diesem Turm erlebte, was seine Gabe und Leidenschaft, welcher Art seine Gebete waren. Arme und Beine ausgestreckt, das warme Holz unter sich, den Kopf leicht zur Seite geneigt, so dass er
durch die Gabelungen der großen Räder sehen konnte, die in ihrem wundersamen Zusammenspiel das bewirkten, was Jean-Louis in Gedanken bis ins letzte Detail mitverfolgte, das unablässige, regelmäßige Ticken der Turmuhr, die hoch über dem Dorf in großen goldenen Zeigern die Zeit angab. Das stete, gottgegebene Hinfließen der Zeit fand hier seine mechanische Umsetzung, seine Abbildung. Hier war Jean-Louis dem Schöpfer näher als irgendjemand sonst, denn er hatte das große Getriebe, diese Grammatik der göttlichen Sprache, durch alle Verzahnungen, Drehungen und Übersetzungen hindurch studiert. Jedes Tick und jedes Tack war das Ergebnis eines ausgeklügelten mechanischen Systems, das er in Gedanken zurückverfolgen konnte bis zur Unruh, der Ursprungsquelle der Bewegung.
    Jean-Louis liebte es, sich nach dem Ausläuten der Messe neben das Kirchenuhrwerk zu stellen, den Augenblick abzuwarten, bis die Zeiger draußen den täglichen Zenit erreichten und den Ausschlag gaben zum Start des größten Spektakels, das dieses mechanische Wunderwerk zu bieten hatte. Die Ankündigung der vollen Stunde durch vier helle, gefolgt von zwölf dunklen, klaren Glockenschlägen klang über die sonntägliche Stille des Dorfes hinweg bis in die finsteren Tannenwälder des Juras hinaus. Jean-Louis folgte den Bewegungen der einzelnen Verzahnungen, der Hebel und Gelenke und zählte mit. Jeder Schlag war ein Siegeszug der Mechanik gegen die Stille der leblosen Materialien, ein Triumph menschlicher Intelligenz gegen die Dumpfheit der Steine, gegen die tote Kälte des Eisens, gegen die Taubheit trockenen Holzes. Jeder Schlag war ein weiser, gottgeleiteter Geistesblitz durch die finstere Dummheit der toten Materie. Denn diese ist dem Menschen
untertan, rezitierte Jean-Louis, sie kann bewegt und gesteuert werden, sie kann zur Präzision und zur ewigen Wiederholung gezwungen werden. Jede noch so verrückte, noch so komplizierte Bewegung, jede noch so unmöglich erscheinende Handlung ist konstruierbar. Das Uhrwerk, in dessen Mitte Jean-Louis an diesem sonnigen Festtag stand, bewies es ihm mit jedem Glockenschlag, der durch das Regelwerk gesteuert, automatisch zu jeder vollen, zu jeder halben und zu jeder viertel Stunde erklang. Was sich jetzt hier um zwölf Uhr mittags wie durch Zauberhand abspielte, verwandelte die mühsamen Seilzüge seines Vaters, welche die Glocken für das Ein- und Ausläuten der Messe bewegten, in einen lächerlichen Anachronismus. Warum von Hand betätigen, was durch einen automatisch wirkenden Mechanismus besser, gleichmäßiger und frei von menschlicher Unzuverlässigkeit bewältigt werden kann?
    Jean-Louis betrachtete die Seile, die nun lose durch alle Böden hindurch in die Sakristei hinunterhingen, und bereute es, nicht daran gedacht zu haben, ein Messer mitzunehmen. Irgendwann, schwor er sich, an einem großen Tag, würde er, Jean-Louis Sovary, diese Seile durchschneiden wie
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